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Wie ich mich erinnere, kam ich damals zwischen zwölf und ein Uhr mittags auf den Marktplatz; die Menge verhielt sich schweigsam und machte ernste, finstere Gesichter. In einem Wagen kam ein feister Kaufmann mit gelblicher Gesichtsfarbe herbeigefahren, stieg aus, verbeugte sich bis zur Erde, küßte das Bild, opferte einen Rubel, stieg ächzend wieder in seine Equipage und fuhr davon. Auch eine Kutsche mit zweien unserer Damen kam gefahren, in deren Begleitung sich zwei unserer Taugenichtse befanden. Die jungen Leute (von denen der eine ganz und gar nicht mehr jung war) stiegen gleichfalls aus und drängten sich, das Volk ziemlich geringschätzig zur Seite schiebend, zu dem Heiligenbilde durch. Beide behielten die Hüte auf dem Kopfe, und der eine setzte sich sein Pincenez auf die Nase. In der Menge wurde gemurrt, allerdings nur leise, aber es klang doch recht unfreundlich. Der junge Mann mit dem Pincenez entnahm seinem Portemonnaie, das dick mit Banknoten vollgestopft war, eine kupferne Kopeke und warf sie in das Opferbecken; dann kehrten beide lachend und laut redend zu der Kutsche zurück. In diesem Augenblicke sprengte, von Mawriki Nikolajewitsch begleitet, Lisaweta Nikolajewna herbei. Sie sprang vom Pferde, warf den Zügel ihrem Begleiter zu, der auf ihre Weisung bei dem Pferde blieb, und trat zu dem Heiligenbilde gerade zu der Zeit heran, als die Kopeke in das Becken geworfen wurde. Die Röte des Unwillens übergoß ihre Wangen; sie nahm ihren Zylinderhut ab, zog die Handschuhe aus, fiel vor dem Heiligenbilde einfach auf dem schmutzigen Trottoir auf die Knie und verbeugte sich andächtig dreimal bis zur Erde. Dann zog sie ihr Portemonnaie aus der Tasche; aber da sie darin nur ein paar Zehnkopekenstücke fand, so nahm sie ohne zu zaudern ihre Brillantohrringe aus den Ohren und legte sie in das Becken.

»Ist das zulässig? Ja? Zur Ausschmückung der Einfassung?« fragte sie in starker Aufregung den Mönch.

»Gewiß, es ist zulässig,« antwortete dieser. »Jede Gabe ist nützlich.«

Das Volk schwieg und brachte weder Mißfallen noch Billigung zum Ausdruck. Lisaweta Nikolajewna stieg in ihrem beschmutzten Kleide wieder zu Pferde und ritt davon.

II.

Zwei Tage nach dem soeben erzählten Ereignisse begegnete ich ihr in einer zahlreichen Gesellschaft, die in drei Wagen fuhr und von Reitern umgeben war. Sie winkte mich mit der Hand heran, ließ den Wagen halten und bat mich dringend, ich möchte mich doch der Gesellschaft anschließen. In der Equipage fand sich ein Platz für mich; sie stellte mich lachend ihren Begleiterinnen, reich gekleideten Damen, vor und erklärte mir, sie begäben sich alle auf eine außerordentlich interessante Expedition. Sie lachte laut und schien überaus glücklich zu sein. In der letzten Zeit hatte sich ihrer eine an Ausgelassenheit grenzende Fröhlichkeit bemächtigt. Das Unternehmen war in der Tat exzentrisch: alle wollten sich über den Fluß nach dem Hause des Kaufmanns Sewastjanow begeben, bei dem in einem Nebengebäude schon seit etwa zehn Jahren in Ruhe, Zufriedenheit und Behaglichkeit unser gottbegnadeter Prophet Semjon Jakowlewitsch lebte, der nicht nur bei uns, sondern auch in den angrenzenden Gouvernements und sogar in den Hauptstädten wohlbekannt war. Alle möglichen Leute, namentlich Fremde, besuchten ihn, um aus seinem Munde ein ihm von Gott eingegebenes Wort zu hören, ihm ihre Verehrung zu bezeigen und eine Geldspende zu opfern. Die mitunter sehr beträchtlichen Opfergaben wurden, wenn Semjon Jakowlewitsch nicht sofort selbst darüber verfügte, frommerweise einer Kirche überwiesen, vorzugsweise unserem Bogorodski-Kloster; zu diesem Zwecke hatte das Kloster die Einrichtung getroffen, daß beständig ein Mönch bei Semjon Jakowlewitsch Dienst hatte. Alle erwarteten ein großes Amüsement. Keiner von dieser Gesellschaft hatte bisher Semjon Jakowlewitsch gesehen. Nur Ljamschin war früher einmal bei ihm gewesen und erzählte jetzt, dieser habe befohlen, ihn mit einem Besen wegzujagen, und ihm eigenhändig zwei große gekochte Kartoffeln nachgeworfen. Unter den Reitern bemerkte ich auch Peter Stepanowitsch, wieder auf einem gemieteten Kosakenpferde, auf dem er sich sehr schlecht hielt, und Nikolai Wsewolodowitsch, ebenfalls zu Pferde. Dieser schloß sich manchmal von den gemeinsamen Vergnügungen nicht aus, zeigte bei solchen Gelegenheiten immer, wie es der Anstand gebot, eine heitere Miene, redete aber wie früher nur selten und nur wenig. Als die Kavalkade auf dem abwärtsführenden Wege sich der Brücke näherte und zu einem Gasthause gelangte, machte jemand plötzlich die Mitteilung, daß in einem Logierzimmer des Gasthauses soeben ein Fremder gefunden sei, der sich erschossen habe; man warte jetzt auf die Polizei. Sofort wurde der Gedanke ausgesprochen, man solle sich den Selbstmörder ansehen. Dieser Gedanke wurde beifällig aufgenommen: unsere Damen hatten noch nie einen Selbstmörder gesehen. Ich erinnere mich, daß eine derselben sogleich laut äußerte, alles sei schon so langweilig geworden, daß man keine Zerstreuung von der Hand weisen dürfe, wenn sie nur interessant sei. Nur wenige blieben vor der Haustür und warteten; die übrigen betraten in dichtem Schwarme den unsauberen Flur, und unter ihnen erblickte ich zu meiner Verwunderung auch Lisaweta Nikolajewna. Das Zimmer des Selbstmörders stand offen, und natürlich wagte niemand, uns den Eintritt zu verwehren. Es war ein noch sehr junger Mensch, etwa neunzehnjährig, jedenfalls nicht älter, von sehr hübschem Äußeren, mit vollem, blondem Haar, regelmäßiger, ovaler Gesichtsbildung und reiner, schöner Stirn. Er war schon starr geworden, und sein blasses Gesicht sah aus wie aus Marmor gemeißelt. Auf dem Tische lag ein von ihm geschriebener Zettel, man möge niemandem die Schuld an seinem Tode beimessen; er habe sich erschossen, weil er vierhundert Rubel »verjeudet« habe. Das Wort »verjeudet« stand so auf dem Zettel; in den vier Zeilen, die derselbe enthielt, steckten drei orthographische Fehler. Neben dem Toten stand ächzend und stöhnend ein dicker Gutsbesitzer, der wohl in der Heimat desselben sein Nachbar sein mochte, in eigenen Geschäften nach der Stadt gekommen war und in einem anderen Zimmer logierte. Aus seinen Mitteilungen war zu entnehmen, daß der junge Mensch von seiner Familie, das heißt von seiner verwitweten Mutter, seinen Schwestern und Tanten, aus ihrem Dorfe nach der Stadt geschickt war, um unter der Leitung einer in der Stadt lebenden Verwandten verschiedene Einkäufe für die Aussteuer der ältesten Schwester zu machen, die sich demnächst verheiraten wollte, und die Sachen nach Hause zu bringen. Sie hatten ihm vierhundert Rubel anvertraut, die sie sich in Jahrzehnten zusammengespart hatten, bei seiner Abreise vor Angst gestöhnt, ihm endlose Ermahnungen mit auf den Weg gegeben, viel für ihn gebetet und unzählige Male das Zeichen des Kreuzes über ihn gemacht. Der junge Mensch war bisher wohlgesittet gewesen und hatte die besten Hoffnungen erweckt. Als er vor drei Tagen in die Stadt gekommen war, hatte er sich bei seiner Verwandten nicht blicken lassen, sondern war in dem Gasthause abgestiegen und geradeswegs in einen Klub gegangen, in der Hoffnung, in einem Hinterzimmer einen von auswärts zugereisten Bankhalter oder wenigstens ein Pochspiel zu finden. Aber Poch wurde an diesem Abend nicht gespielt; es war auch kein Bankhalter da. Erst gegen Mitternacht war er in sein Zimmer zurückgekehrt, hatte sich Champagner und Havannazigarren geben lassen und sich ein Abendessen von sechs oder sieben Gängen bestellt. Aber von dem Champagner war er betrunken geworden, und die Zigarren hatten ihm Übelkeit erregt, so daß er die aufgetragenen Speisen nicht angerührt, sondern sich beinah bewußtlos schlafen gelegt hatte. Als er am andern Tage aufgewacht war, hatte er sich frisch und munter gefühlt und sich sogleich zu einer jenseits des Flusses in der Vorstadt lagernden Zigeunerhorde begeben, von der er tags zuvor im Klub gehört hatte, und hatte sich im Gasthause zwei Tage lang nicht sehen lassen. Gestern war er endlich um fünf Uhr nachmittags erschienen, hatte sich sogleich hingelegt und bis zehn Uhr abends geschlafen. Als er aufgewacht war, hatte er sich ein Kotelett, eine Flasche Château Yquem und Weintrauben, sowie Papier, Feder und Tinte geben lassen. Niemand hatte an ihm etwas Besonderes bemerkt; er war ruhig, still und freundlich gewesen. Wahrscheinlich hatte er sich schon um Mitternacht erschossen, obwohl sonderbarerweise niemand den Schuß gehört hatte; man war erst heute mittag darauf aufmerksam geworden, daß von dem jungen Manne nichts zu sehen und zu hören war, und hatte nach vergeblichem Klopfen die Tür aufgebrochen. Die Flasche Château Yquem war zur Hälfte geleert, der Teller mit Weintrauben war ebenfalls noch halb voll. Der Schuß war aus einem kleinen dreiläufigen Revolver abgefeuert worden und gerade ins Herz gegangen. Blut war nur sehr wenig herausgeflossen; der Revolver war ihm aus der Hand auf den Teppich gefallen. Der junge Mann saß halbliegend in der Sofaecke. Der Tod mußte augenblicklich eingetreten sein; auf dem Gesichte war nichts von Todeskampf zu bemerken; der Ausdruck desselben war ruhig, beinah glücklich, wie wenn er lebte. Die Unsrigen betrachteten den Toten alle mit lebhafter Neugier. Überhaupt liegt in jedem Unglück des Nächsten immer etwas, was ein fremdes Auge erfreut; das trifft für jeden Menschen zu. Unsere Damen schwiegen während dieser Besichtigung des Selbstmörders; ihre Begleiter aber suchten sich durch scharfsinnige Bemerkungen und besondere Geistesgegenwart hervorzutun. Einer äußerte, dies sei der beste Ausweg gewesen, und etwas Verständigeres habe der junge Mann überhaupt nicht ersinnen können; ein anderer hob hervor, daß er wenigstens eine kurze Zeit einmal gut gelebt habe. Ein dritter warf plötzlich die Frage auf, woher es nur komme, daß das sich Erhängen und sich Erschießen bei uns so häufig werde; gerade als ob die Menschen von ihren Wurzeln abgesägt seien, gerade als ob ihnen allen der Boden unter den Füßen wegglitte! Den, der so philosophierte, sah man unfreundlich an. Dafür mauste Ljamschin, der es sich zur Ehre anrechnete, die Rolle des Narren zu spielen, eine Weintraube vom Teller; nach ihm tat ein zweiter lachend dasselbe, und ein dritter streckte schon die Hand nach dem Château Yquem aus. Aber er mußte innehalten, da in diesem Augenblicke der Polizeimeister eintrat; dieser ersuchte uns sogar, das Zimmer zu verlassen. Da alle bereits genug gesehen hatten, gingen sie widerspruchslos hinaus, obgleich Ljamschin gern mit dem Polizeimeister angebunden hätte. Die allgemeine Fröhlichkeit, das Lachen, das muntere Gespräch, alles das zeigte sich auf der noch übrigen Hälfte des Weges auf das Doppelte gesteigert.