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»Sir?«, brachte der unrasierte Mann mühsam hervor.

»Antworten Sie! Verdammt!« Da Sandmans Rechte an der Kehle des Gefangenen lag und ihn würgte, konnte er im Augenblick gar nichts sagen. Im Aufenthaltsraum herrschte Totenstille. Der Mann starrte erstickend in Sandmans helle Augen.

Der Wärter, über Sandmans unbändige Wut ebenso erschrocken wie die Gefangenen, kam nervös durch den Raum. »Sir? Sie erdrosseln ihn, Sir.«

»Ich bringe ihn um, verdammt noch mal«, schnaubte Sandman.

»Sir, bitte, Sir.«

Schlagartig kam Sandman zu sich und ließ den Gefangenen los. »Wenn Sie nicht höflich sein können, sollten Sie den Mund halten«, sagte er zu dem halb erstickten Mann.

»Er wird Ihnen keine Frechheiten mehr sagen, Sir«, schaltete sich der Wärter besorgt ein, »dafür verbürge ich mich, Sir.«

»Kommen Sie, Corday«, befahl Sandman und stolzierte hinaus.

Ein erleichtertes Seufzen ging durch den Raum, als er draußen war. »Wer zum Teufel war das denn?«, brachte der geschundene Gefangene durch seine schmerzende Kehle heraus.

»Nie gesehen.«

»Der hat kein Recht, mich zu schlagen«, sagte der Gefangene, und seine Freunde grummelten zustimmend, obwohl keiner Lust hatte, Sandman nachzugehen und sich mit ihm anzulegen.

Sandman führte den erschrockenen Corday über den Presshof zu der Treppe, über die man die fünfzehn Salzkisten erreichte. Die fünf Zellen im Erdgeschoss wurden alle von Prostituierten benutzt. Sandman, in dem immer noch der Jähzorn tobte, entschuldigte sich nicht für die Störung, sondern knallte lediglich die Türen zu und ging die Treppe hinauf, um eine freie Zelle im ersten Stock zu suchen. »Hier hinein«, befahl er Corday, und der verängstigte Junge schlurfte an ihm vorbei. Der Gestank in diesem alten Teil des Gefängnisses, der die blutigen Gordon-Aufstände in London überlebt hatte, ließ Sandman schaudern. Der Rest des Gefängnisses war bei den Aufständen vollständig niedergebrannt, aber dieser Trakt hatte lediglich einige Brandschäden abbekommen. Die Salzkisten wirkten eher wie mittelalterliche Verließe, nicht wie moderne Zellen. Auf dem Boden lag eine Matte, die offenbar als Matratze diente, unter dem vergitterten Fenster türmten sich unordentlich Decken für fünf bis sechs Männer, und in einer Ecke stank ein nicht geleerter Nachttopf.

»Ich bin Captain Rider Sandman«, stellte er sich Corday erneut vor. »Der Innenminister hat mich gebeten, Ihren Fall zu überprüfen.«

»Warum?«, fragte Corday, der auf den Stapel Decken gesunken war und für diese Frage allen Mut zusammennehmen musste.

»Ihre Mutter hat Beziehungen«, antwortete Sandman kurz angebunden und immer noch wütend.

»Die Königin hat sich für mich verwendet?« Corday schaute hoffnungsvoll auf.

»Ihre Majestät hat um eine Bestätigung Ihrer Schuld gebeten«, sagte Sandman pedantisch.

»Aber ich bin unschuldig«, wandte Corday ein.

»Sie wurden zum Tode verurteilt«, sagte Sandman. »Ihre Schuld steht also außer Frage.« Er wusste, dass er unerträglich aufgeblasen klang, aber er wollte diese unappetitliche Begegnung hinter sich bringen und endlich zum Kricket gehen. Schneller dürfte er fünfzehn Guineen in seinem ganzen Leben noch nicht verdient haben, dachte er, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass dieses verachtenswerte Geschöpf sich seiner Forderung nach einem Geständnis lange widersetzen könnte. Corday wirkte jämmerlich, weibisch und den Tränen nahe. Seine Kleidung war zwar unordentlich, aber modisch elegant: schwarze Hose, weiße Strümpfe, ein weißes Rüschenhemd und eine blaue Seidenweste, aber weder Krawatte noch Überrock. Sandman vermutete, dass die Kleider teurer waren als alles, was er selbst besaß. Dieser Umstand und Cordays ausdruckslose, nasale Sprechweise mit Akzent, die gesellschaftliche Ambitionen verriet, verstärkten seine Abneigung gegen den Jungen nur noch weiter. Ein wehleidiger Emporkömmling, lautete Sandmans instinktives Urteil; ein Junge, der kaum trocken hinter den Ohren war und schon die Manieren und Modetorheiten der höheren Schichten nachäffte.

»Ich habe es nicht getan!«, protestierte Corday noch einmal und brach in Tränen aus. Seine schmächtigen Schultern bebten, seine Stimme war weinerlich, und Tränen liefen ihm über die bleichen Wangen.

Sandman stand in der Zellentür. Sein Vorgänger hatte Gefangene offenbar mit Schlägen zu Geständnissen bewegt, ein Vorgehen, das Sandman nicht nachzuahmen gedachte, weil er es unehrenhaft und unzulässig fand. Daher musste er den elenden Jungen wohl oder übel überreden, die Wahrheit zu sagen. Aber zuerst sollte er aufhören zu weinen. »Warum nennen Sie sich Corday?«, fragte er in der Hoffnung, ihn abzulenken. »Ihre Mutter heißt doch Cruttwell?«

Corday schniefte. »Es gibt kein Gesetz, das es verbietet.«

»Habe ich das behauptet?«

»Ich bin Porträtmaler«, sagte Corday verdrossen, als müsse er sich selbst dieser Tatsache versichern, »und Kunden ziehen Maler mit französischen Namen vor. Cruttwell klingt nicht vornehm. Würden Sie sich von einem Charlie Cruttwell porträtieren lassen, wenn Sie einen Monsieur Charles Corday engagieren könnten?«

»Sie sind Maler?« Sandman konnte seine Verwunderung nicht verhehlen.

»Ja!« Corday schaute Sandman aus rot geweinten Augen streitlustig an, verfiel aber gleich wieder in sein Elend. »Ich bin bei Sir George Phillips in die Lehre gegangen.«

»Er ist überaus erfolgreich«, sagte Sandman boshaft, »obwohl er einen prosaischen englischen Namen trägt. Und Sir Thomas Lawrence klingt mir auch nicht gerade französisch.«

»Ich dachte, es würde helfen, meinen Namen zu ändern«, sagte Corday schmollend. »Spielt das eine Rolle?«

»Ihre Schuld spielt eine Rolle«, sagte Sandman streng. »Und wenn sonst nichts zählt, könnten Sie mit reinem Gewissen vor das Antlitz Ihres Schöpfers treten, indem Sie ein Geständnis ablegen.«

Corday starrte Sandman an, als sei sein Besucher verrückt. »Wissen Sie, wessen ich schuldig bin?«, fragte er schließlich. »Ich bin schuldig, eine Stellung über meinem Stand anzustreben. Ich bin schuldig, ein anständiger Maler zu sein. Ich bin schuldig, ein verdammt viel besserer Maler zu sein als der verfluchte Sir George Phillips, und ich bin schuldig, Gott, wie schuldig, weil ich dumm bin, aber die Countess of Avebury habe ich nicht getötet. Wirklich nicht!«

Sandman mochte den Jungen nicht, aber er lief Gefahr, sich von ihm überzeugen zu lassen, daher stählte er sich, indem er sich die Mahnung des Pförtners in Erinnerung rief. »Wie alt sind Sie?«, fragte er.

»Achtzehn«.

»Achtzehn«, wiederholte Sandman. »Gott wird sich deiner Jugend erbarmen. Wir alle machen Dummheiten, wenn wir jung sind, und du hast Furchtbares getan, aber Gott wird deine Seele wägen, es gibt immer noch Hoffnung. Du bist nicht zum Höllenfeuer verdammt, wenn du gestehst und Gott um Vergebung bittest.«

»Vergebung wofür?«, fragte Corday trotzig.

Sandman war so verdutzt, dass er gar nichts mehr sagte.

Mit roten Augen und bleichem Gesicht schaute Corday zu Sandman auf. »Sehen Sie mich doch an, sehe ich aus wie ein Mann, der die Kraft hat, eine Frau zu vergewaltigen und zu töten, selbst wenn ich es wollte? Sehe ich so aus?« Nein, das musste Sandman zumindest vor sich eingestehen, denn Corday war eine schwächliche, wenig beeindruckende Kreatur, dünn und schmächtig. Nun fing er wieder an zu weinen: »Sie sind alle gleich. Niemand hört mir zu! Ich bin allen gleichgültig! Solange nur jemand hängt, ist es allen gleichgültig.«

»Hören Sie auf zu heulen, um Himmels willen!«, schnaubte Sandman, rief sich aber sofort zur Ordnung, sich nicht gehen zu lassen. »Es tut mir Leid.«

Corday stutzte, hörte auf zu weinen und schaute Sandman stirnrunzelnd an. »Ich habe es nicht getan, ich habe es wirklich nicht getan.«