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Und da kam ein brauner zerkratzter Kinderarm aus dem Schildkrötenpanzer, noch ein Kinderarm … ein Kinderkopf mit wildem blondem Haar … und schließlich ein ganzes Kind. Ein Mädchen in einem ziemlich mitgenommenen Kleid, unter dem es Hosen trug. Also war es doch der Panzer, den sie am Vortag weiter unten am Weg gesehen hatten. Das kleine Mädchen hatte ihn hier heraufgeschleift, um sich darin zu verstecken.

»Felipe?«, fragte die Kleine noch einmal, verunsichert jetzt. »Versteckst du dich? Ich habe mich auch versteckt! Ich wollte dich erschrecken …« Sie verstummte. »Vielleicht wollte er doch kein Wasser holen«, sagte sie laut zu sich selbst. »Vielleicht war er auf dem Weg nach woanders. Und ich warte und warte hier im besten Versteck aller Zeiten.«

Sie stampfte mit dem kleinen Fuß auf, an dem eine zu große Ledersandale hing, die aussah, als sei sie von jemandem gemacht worden, der sich weder mit Leder noch mit Sandalen auskannte.

Marit beschloss, dass dieses kleine Mädchen in keinem Fall gefährlich war, und trat durch die roten Blüten.

»Hallo«, sagte sie auf Spanisch. »Ich bin es, die geraschelt hat.«

Die Kleine fuhr herum, starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, machte kehrt und rannte davon.

»Warte!«, rief Marit. »Ich tu dir doch nichts! Ich will nur wissen …«

Sie sprintete hinter dem Kind her durchs Gebüsch und merkte, dass sie sich auf einem schmalen Pfad befanden. Einem Pfad, der nicht mit Schildkrötenpanzern gekennzeichnet war, dafür aber offenbar häufig benutzt wurde. Die Kleine war schnell. Marit musste sich anstrengen, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Über ihr flatterte Loco, und Carmen krallte sich in ihrem Ärmel fest.

»Warte!«, rief Marit noch einmal. Die Kleine führte sie den Berg hinauf und endlich, endlich holte Marit auf. Sie hatte trotz allem die längeren Beine. Ein letzter Satz vorwärts und sie bekam das Mädchen am Arm zu fassen. Es trat und kratzte wie ein wildes Tier und beinahe sah es auch so aus: Marit konnte sein Gesicht kaum sehen vor ungekämmtem Haar. Die Kleine versuchte zu rufen, während sie um sich schlug, aber ihre Rufe kamen eher als ein ärgerliches Keuchen heraus: »Mamaaaaa! Papa! Felipe!« Und dann, laut und gellend: »Ayudame!« Sie schaffte es, ihre Zähne in Marits Handgelenk zu versenken, und als sie es wieder losließ, zischte sie wütend: »Lass mich los!«

Marit erstarrte. Die letzten Worte hatte sie auf Deutsch gesagt. Und jetzt merkte Marit, dass sie die Stimme kannte. Die Kleine schüttelte sich das wilde Haar aus dem Gesicht, um Marit wutentbrannt anzustarren. Und die blauen Augen in diesem Gesicht kannte Marit. Das Gesicht selbst war älter geworden, seit sie es zum letzten Mal gesehen hatte, sonnengebräunter, dreckiger und magerer. Doch die blauen Augen und die beinahe weißen Brauen waren die gleichen geblieben.

»Julia?«, fragte Marit.

Sie träumte. Natürlich, das musste es sein. Sie war beim Warten an der Quelle eingeschlafen und träumte. Aber es war ein schöner Traum.

»Wer bist du?«, fragte die Kleine auf Spanisch. »Ich hab dich noch nie gesehen.«

»Oh doch«, sagte Marit und lachte. »Das war in der Wirklichkeit, nicht im Traum. Als du noch gelebt hast. In Hamburg. Es war Nacht. Bevor alles brannte. Du hattest den Teddybären mit der roten Seidenschleife im Arm.«

»Den Bären!«, rief Julia und ihre Augen wurden groß vor Sorge. »Ich habe ihn verloren. Papa ist später zurückgegangen, aber der Bär war nicht mehr da.«

»Papa ist … zurückgegangen?«, fragte Marit. Was für eine Sorte von Traum war dies? Oder war es vielleicht gar kein Traum?

»Wie heißt du überhaupt?«, fragte Julia.

»Marit«, sagte Marit.

»Wirklich?«, fragte Julia. »So hieß meine große Schwester auch.«

»Aber ich bin deine große Schwester!«, rief Marit verzweifelt.

»Unmöglich.« Julia schüttelte den Kopf und ihr verwildertes Haar flog dabei umher wie eine Mähne. »Meine Schwester ist tot. Mama sagt, sie ist im Himmel, aber ich weiß, dass es nicht stimmt. Sie ist einfach nur tot.« Sie stampfte wieder mit dem Fuß auf. »Und sie kommt nie, nie wieder, hörst du? Du brauchst nicht so zu tun, als wärst du sie! Da war ein Feuer, ein großes Feuer, alles hat gebrannt, und sie ist so dumm gewesen, so dumm! Sie ist weggerannt. Ich träume dauernd, dass ich sie suche. Sie sagen, ich wandere im Schlaf in den Wald, und sie müssen mit Fackeln losgehen und mich wieder zurückholen. Aber Marit, die kann keiner zurückholen, keiner! Sie ist in der Nacht damals nicht mit in das Auto gestiegen. Sie kannte den Plan nicht, aber ich kannte ihn auch nicht, und ich bin mit Mama mitgegangen. Und das Haus ist eingestürzt und sie haben sie bestimmt nicht mehr in den Keller reingelassen. Papa hat gefragt, ein paar Tage später, und Richard hat ihm das gesagt. Dass sie tot ist.«

Sie sah Marit an und ihre blauen Augen blitzten. Es standen keine Tränen darin, nur blanke Wut. Da erfüllte etwas wie Stolz Marit, und sie wünschte mit aller Macht, dass sie nicht träumte.

»Julia«, flüsterte sie. »Sie haben mich in den Keller gelassen. Ich dachte, ihr wärt tot.«

Julia streckte ihre kleine Hand aus, eine sehr dreckige kleine Hand mit schwarzen Rändern unter den Nägeln, und legte sie auf Marits Wange.

»Du bist so braun und so dünn«, sagte sie. »Und so zerschrammt und so dreckig und du hast kurze Haare und Kleider wie ein Junge. Bist du dir sicher, dass du dich nicht irrst? Du siehst schon ein bisschen aus wie Marit.«

»Ich bin mir hundert Prozent absolut sicher, dass ich Marit bin und mich nicht irre«, sagte Marit.

Und dann zog sie Julia in ihre Arme und hielt sie lange fest, obwohl Julia sich sehr dagegen sträubte, umarmt zu werden. Keine von beiden vergoss eine einzige Träne.

Und tief in Marit zerbrach etwas mit einem lauten Klirren, das nur sie selbst hörte. Als sie Julia losließ, begriff sie, dass es die Traurigkeit war. Sie war so groß gewesen, dass sie beinahe allen Platz in Marit eingenommen hatte. Seit José sie aus dem Pazifik gefischt hatte, war sie jeden Tag ein wenig schwächer geworden, ein wenig dünnhäutiger. Doch sie war geblieben, wo sie war, groß und ausgedehnt zwischen Marits Eingeweiden.

Und jetzt, in diesem Moment, war sie zerbrochen. Zu tausend Scherben. Und da wusste Marit, dass sie nicht träumte. Dies war die Realität. Sie begriff es nicht, aber Julia lebte.

Julia führte sie weiter den Berg hinauf, auf dem schmalen Pfad. Sie fand, dass es zu schwierig war, die Dinge jetzt und hier zu erklären.

»Wenn wir da sind«, sagte sie, »dann erklären die das, das ist besser.«

»Wenn wir wo sind?«, fragte Marit. »Wer ist die

Der Pfad führte am Rand einer Wiese mit hüfthohem Gras entlang, und Marit erinnerte sich daran, dass sie diese Wiese schon einmal gesehen hatte, nachts, als José darin über sie gestolpert war.

»Die, das sind Mama und Papa und Felipe«, sagte Julia. »Felipe ist nicht mit uns verwandt.«

»Das … dachte ich mir«, sagte Marit.

»Er kommt aus Ecuador«, erklärte Julia, sah zum Himmel und lief dann in das Meer aus hohem Gras hinaus. »Komm!«, rief sie. »So geht es schneller! Man darf nicht über die Wiese am Tag, wegen der Flugzeuge, aber jetzt sind keine da.«

Sie hüpfte durchs Gras voran, wie sie in Hamburg mit ihrem Springseil durch den Hof gehüpft war. Über ihnen flog ein übermütiger Vogel waghalsige Spiralen und Kreisel und zeigte dem blauen Himmel seine blauen Füße.

»Gehört der zu dir?«, fragte Julia.

Marit nickte. »Das ist Loco. Aber er ist nur einer von vielen. In meinem Ärmel sitzt Carmen die Reisratte, und dann gibt es noch Chispa die Seelöwin und Kurt den Albatros und Oskar den Pinguin und Uwe den Wasserleguan … und den Flamingo, der verschwunden ist. Mit Oskar fing es an, ich habe seinen Flügel verbunden, und dann kamen all die anderen ganz von selbst … Wir haben einen kleinen Zoo mittlerweile.«