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»Wer ist wir?«, fragte Julia. Sie hatten die Wiese überquert und tauchten wieder ins grüne Wirrwarr der Bäume.

»Oh, José und ich«, sagte Marit. Und dann war sie es, die zu erzählen begann. Sie erzählte Julia nur die schönen und die lustigen Dinge: von den honiggelben Planken der Mariposa und von den Sternbildern, die ihnen nachts den Weg gezeigt hatten. Von der Dosensuppe, die Eduardo gefiltert hatte, und vom Schwimmen mit den Delfinen. Und davon, wie José gedacht hatte, sie wäre ein Junge. Das fand Julia am allerlustigsten.

»Ich möchte auch einen Bruder haben«, sagte sie und seufzte so schwer, dass Marit lachen musste.

»Ja«, sagte sie. »Es hat schon was für sich. Wir helfen einander, und wir streiten uns, dass die Fetzen fliegen. Nur heiraten wird er mich nicht.« Sie lachte wieder. »Jedenfalls hat er das gesagt.«

»Dann heirate ich ihn vielleicht«, erklärte Julia mit großem Ernst. »Später.«

»Ja, mach das nur«, sagte Marit, »wenn ihr mich dann zum Tortenessen einladet.«

In diesem Moment teilte sich der Wald und sie traten auf eine weitere Lichtung hinaus. Aber dies war eine künstliche Lichtung, und es war auch gar keine richtige Lichtung, denn hoch oben zwischen den Bäumen wuchs ein loses Geflecht aus Ranken, sodass die Sonne wie durch ein Gitter schien. Julia folgte Marits Blick.

»Das ist auch für die Flugzeuge«, sagte sie. »Von oben sieht es aus, als wäre alles Wald. Schlau, was? So sehen sie das Haus nicht und die Veranda, weil wir hier doch gar nicht wohnen dürfen, weil … weil … Wie ist das? Die Ecuadorianer sind die Freunde der Amis und die Amis sind jetzt unsere Feinde, und irgendwie deshalb.«

»Das Haus … und die Veranda«, wiederholte Marit.

Auf der Lichtung wuchs kein Gras, dort waren Beete angelegt: lange Reihen von Tomaten- und Bohnenstangen, Salat und Ananas und Bananenstauden. Neben dem Haus stand eine kleine Gruppe von Orangenbäumen.

»Die Orangen, die waren schon da«, sagte Julia. »Die sind uralt, sagt Papa.«

Marit verstand immer noch nicht, wieso Julia dauernd von Papa redete. Sie folgte ihr benommen zwischen den Beeten hindurch, und am Ende des Weges hüpfte Julia die Stufen einer Veranda hoch, deren Dach mit einem Durcheinander aus violetter Clematis und weißer Passiflora bedeckt war. Genau wie das Haus dahinter. Von oben sah es vermutlich aus wie ein Felsen, den die Kletterpflanzen überwuchert hatten.

Auf der Veranda, unter den herabhängenden Blüten, standen ein Tisch und zwei Schaukelstühle, ein wenig windschief zusammengenagelt wie auch die Veranda selbst. Und auf dem Tisch stand ein Flamingo, den Schnabel tief in einen Topf versenkt.

»Der ist seit gestern hier«, erklärte Julia. »Er frisst Suppe, denk dir.«

»Nein«, sagte Marit. »Er filtert die Teilchen heraus. Er heißt Eduardo.«

Und dann vergaß sie den Flamingo. Denn in einem der Schaukelstühle saß ein Mann mit einer Brille und las in einem Buch. Der Mann sah auf und Marit erschrak. Die eine Seite seines hageren Gesichts sah seltsam aus, als wäre sie geschmolzen und wieder fest geworden, und Marit begriff, dass es die Narben einer Verbrennung waren. Das Auge auf dieser Seite des Gesichts war geschlossen und sah aus, als würde es für immer geschlossen bleiben. Doch das andere, offene Auge war blau wie der Himmel und voller Leben und der Mund des Mannes lächelte, und da erkannte Marit ihn.

Sie blieb auf den Stufen der Veranda stehen.

»Papa«, sagte sie.

»Guck, was ich gefunden habe!«, rief Julia, griff mit beiden Händen eine Hand von Papa und zog ihn aus seinem Schaukelstuhl. »Sie war einfach plötzlich da, und sie ist gar nicht tot, jedenfalls behauptet sie das, und sie ist auf einem honiggelben Schiff gekommen, und einen Zoo hat sie auch mitgebracht. Und einen Bruder, der in Wirklichkeit kein richtiger Bruder ist, weil später heirate ich ihn mit Torte.«

»Marit?«, fragte Papa.

Marit nickte. Sie fand sich in seinen Armen wieder, und sie ahnte, dass dies der Tag der Umarmungen war.

»Ich … ich verstehe gar nichts …«, murmelte Papa.

Er nahm Marit an der Hand und führte sie um das Haus herum und hinter dem Haus gab es ein Maisfeld. Es hatte nicht die viereckige Form eines Maisfelds, seine Grenzen waren völlig unregelmäßig. Und Marit begriff, dass auch das eine Maßnahme gegen die Flugzeuge war. Ein viereckiges Feld erkennt man von oben als Feld, ein Amöbenfeld nicht.

Mitten im Mais stand Mama. Sie trug ein altes graues Kopftuch und Männerkleider, und um sie herum war die Luft blau von tausend Schmetterlingsflügeln. Marit sah ein goldenes Glänzen dazwischen. Die Schmetterlinge hatten goldene Flecken auf den Flügeln.

Es war alles zu unglaublich.

»Er macht irgendwelche Zeichen«, sagte Ben. »Fahren wir näher an sie heran.«

Das Funkgerät der Albatros hatte sich nicht vom letzten Sturm erholt.

Seit dem Tag nach dem Vulkanausbruch fuhren die Roosevelt und die Albatros dicht nebeneinanderher, Militärgrau neben Federweiß. Aber auch gemeinsam hatten sie es nicht geschafft, die Besatzung der Mariposa aus den Wellen zu bergen. Es war still geworden auf den Schiffen, seit die Mariposa im Sturm gesunken war.

Ben Miller verfluchte seine eigene Dummheit in jeder Minute. Der Mann, der mit ihm an Bord der Albatros gegangen war, um José zurückzubringen, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Name war Señor Fernandez. José war sein jüngster Sohn gewesen.

Ben hatte es Lindsey erklärt – zu spät erklärt: wie er José am Hafen von Baltra getroffen hatte. Wie er gesagt hatte, er solle herausfinden, was auf der Isla Maldita geschah, dann würden sie ihn mit in die Luft nehmen. Nur so, zum Spaß. Er hatte doch nicht ahnen können, dass der Junge das Boot eines Toten stehlen würde, der nicht tot war. Und dass er seltsame Karten sammelte.

»Egal, was warum geschehen ist«, hatte Lindsey gesagt. »Casafloras Karte ist mit der Mariposa gesunken. Was mit Ihnen geschieht, Miller, das besprechen wir, wenn wir wieder auf Baltra sind.«

Lindseys und Parkers Mission war erfüllt. Sie waren losgefahren, um Casaflora und die Karte zu vernichten, ehe sie den Deutschen in die Hände fiel. Casaflora war tot und die Karte lag auf dem Grund des Pazifiks. Natürlich hatte es auch sie berührt, dass zwei Kinder mit ihr im Pazifik versunken waren. Aber immerhin hatte der Junge sich geweigert, Casaflora die Karte auszuhändigen. Vielleicht, dachte Lindsey, war er weniger Kind gewesen, als man gemeinhin von einem Dreizehnjährigen dachte. Vielleicht hatte er geglaubt, er könnte die Karte auf irgendeinem Umweg doch noch an die Deutschen verkaufen. Sie würden es nie herausfinden.

Jetzt verstand Ben, was Parker durch das Megafon rief: »Wir kehren um! Wir fahren zurück zur Isla Maldita! Wir haben einen Funkspruch erhalten. Ein Flieger hat am Strand der Insel jemanden gesehen! Einen Menschen!«

Ben sah, wie ein neues Licht in Fernandez’ Augen zu leuchten begann.

»Sie sind am Leben«, sagte er.

Auf der Roosevelt ließ Parker das Megafon sinken.

»Er macht sich Hoffnungen«, sagte er zu Waterweg, der neben ihm stand. »Aber ich denke nicht, dass es die Kinder sind, die wir auf der Insel finden werden. Gott, ich wünschte, er würde nicht hoffen. Es gibt nichts Schlimmeres als enttäuschte Hoffnungen.«

»Doch«, erwiderte Waterweg. »Es gibt etwas Schlimmeres. Gehasst zu werden, weil jemand nicht begriffen hat, auf welcher Seite man steht. Marit ist am Leben. Sie muss am Leben sein. Ich muss ihr endlich so vieles erklären. Worauf warten wir? Kehren wir um.«

Alles in dem kleinen Haus war ein wenig schief und provisorisch. Aber Marit konnte nicht aufhören zu denken, dass es das schönste Haus war, das sie je gesehen hatte. Sie trugen mehr Stühle auf die Veranda und Mama kochte Tee und stellte Blechteller mit Bananenkuchen auf den wackeligen Tisch. Marit hatte ihr die alte Schiebermütze wiedergegeben, und nun trug sie sie statt des Kopftuchs. Und während Marit sich ein wenig für den Hunger schämte, mit dem sie über den Kuchen herfiel, begannen endlich die Erklärungen.