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Und jetzt hatten die Männer sie auch gesehen.

Josés Schritte trugen ihn von selbst zu den Piratenhöhlen zurück. Er trank etwas Wasser aus der Vertiefung im Fels, setzte sich auf die steinerne Bank und ließ seinen Blick durch die Höhle gleiten. Und er dachte daran, dass er sich vorgestellt hatte, wie er hier zusammen mit Marit überlebte. Wie sie Abend für Abend auf dem kleinen Platz vor den Höhlen sitzen und in den Sternenhimmel hinaufsehen würden.

Aber nun würde er all diese Dinge allein tun, und es wäre eine traurige Sache, allein in der Höhle zu wohnen. Er trat gegen den Topf, der mit einem blechernen Krachen umfiel und ein Stück rollte. Er wollte wütend sein, doch er konnte es nicht.

Er fühlte sich nur leer.

Nichts war so gewesen, wie er gedacht hatte. Es war schwer gewesen, damit zu leben, dass Jonathan nicht Jonathan war, sondern ein Mädchen. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Marit war kein Mädchen wie andere Mädchen, sie war zwar eine Schwester, doch sie hatte alles mit ihm geteilt wie ein Bruder. Und nun war sie nicht einmal mehr eine Schwester. Es tat weh, das zu denken. Stimmte es, dass sie gedacht hatte, ihre Eltern wären tot? War es wahr, dass sie nur auf die Isla Maldita gekommen waren, um dort Felder zu bestellen? Dass Marits Vater vor dem Krieg geflohen war?

»Er ist nicht nur ein Deutscher«, murmelte José, »sondern auch noch ein Feigling.«

Aber wenn die Deutschen jeden umbrachten, der vor dem Krieg floh, war es dann feige, vor dem Krieg zu fliehen? War er dann nicht ein Feind der Deutschen? Und war ein Deutscher, der ein Feind der Deutschen war, ein Freund von Deutschlands Feinden? Josés Gedanken verhedderten sich.

»Nein«, sagte er, »alle Deutschen sind gleich. Ich hasse alle Deutschen.«

Es klang so leer wie das Gefühl in ihm, so blechern wie das Geräusch des umfallenden Topfes. Er war sich nicht mehr sicher, was stimmte.

Er war sich nur sicher, dass seine Schwester ihn belogen hatte, und diese Tatsache machte die Höhle kalt und feindlich. Auf einmal konnte er es nicht mehr ertragen, die Feuerstelle anzusehen, an der sie zusammen gesessen hatten. Er stand auf und lief den alten Weg entlang, hinunter zum Strand. Er wusste nicht, was er dort wollte. Allein sein vielleicht. Allein sein ohne die Erinnerungen, die die Höhle barg.

Er kam bis zu dem Stück des Berges, wo der Wald aufhörte, wo das Gestrüpp niedrig war und man aufs Meer hinaussehen konnte. Es lag strahlend blau in der Nachmittagssonne, und mitten darin gab es zwei große Flecken, einen grauen und einen weißen. Zwei Schiffe. José kauerte sich instinktiv hinter einen Busch, wurde eins mit dem Abhang und beobachtete, wie sie langsam näher kamen. Sie liefen die Bucht an, in der auch Marit und er mit ihrem Floß angespült worden waren. Die Roosevelt und die Albatros, dachte José. Ob die Amerikaner immer noch glaubten, er hätte Casafloras Karte? Die Schiffe steuerten genau auf die Klippen zu. Sie würden daran zerschellen wie vielleicht vor vielen Jahren das Schiff seines Urgroßvaters.

Man muss etwas tun, wisperte die Abuelita, die ihr Stichwort gehört hatte. Wenn du dich nur ein wenig mit ihnen beschäftigt hättest, könntest du die Unaussprechlichen bitten, die Schiffe von den Klippen fortzutragen …

José ignorierte sie. Er überlegte, ob er sein Versteck verlassen sollte, um zu winken und zu rufen. Wenn er seine Mauser noch gehabt hätte, hätte er in die Luft geschossen, damit sie ihn bemerkten. Und in genau diesem Moment fiel ein Schuss. Er kam von oben aus dem Wald. José drehte den Kopf. Er konnte das Felsdach der Höhle sehen. Und dort stand jemand. Dort standen mehrere Menschen: Marit und ihre Eltern, ihre Schwester und der Ecuadorianer. Marits Vater winkte mit beiden Armen. Einen Moment lang dachte José, er winkte ihm. Nein. Sie hatten ihn nicht gesehen. Marits Vater winkte den Männern auf den Schiffen, um sie zu warnen. Und die Schiffe drehten tatsächlich ab. Sie machten jetzt einen Bogen um die Klippen. Aber José hatte das Gefühl, dass sie den Schuss missverstanden hatten. Sie flohen nicht vor den unsichtbaren Klippen. Sie flohen vor den Schüssen. Niemand an Bord der Schiffe winkte zurück.

José blieb in seinem Versteck sitzen und beobachtete, wie sie ankerten und in zwei kleinen Beibooten an Land paddelten. Als sie aus den Booten stiegen, zählte er fünf Männer. Zu seiner Überraschung war einer von ihnen Waterweg. Er war also doch noch am Leben. Und dann sah José, dass er noch einen der Männer kannte. Den einzigen Einheimischen. Konnte es sein? War das da unten wirklich … sein Vater?

José merkte, wie seine Hände feucht wurden vor Aufregung. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte ihn, aber er verstand nicht, was sein Vater dort bei den anderen Männern tat. War er ihnen die ganze Zeit über gefolgt? Vielleicht war es besser, zunächst verborgen zu bleiben. Abzuwarten. Er sah die Männer die Serpentinen des Weges heraufkommen.

Dann sah er oberhalb seines Verstecks Marits Eltern und den Ecuadorianer aus dem Schatten der Bäume treten. Sie kamen noch ein Stück den Weg herunter, dann blieben sie stehen, wenige Meter von José entfernt, der reglos am Boden kauerte.

Sie hatten die Männer unten auf dem Weg entdeckt.

Und jetzt hatten die Männer auch sie gesehen.

»Halt«, sagte Lindsey. »Da oben. Auf dem Weg.«

»Das«, sagte Parker leise, »sind keine schiffbrüchigen Kinder.«

»Nein«, flüsterte Ben Miller. Er schämte sich immer noch, dass er schuld war an der ganzen Sache mit José. Es half nicht, dass er Hals über Kopf zusammen mit Josés Vater auf einem geliehenen Schiff losgesegelt war, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. Er war jung, hatte eine Menge wiedergutzumachen, und deshalb flüsterte er, obwohl alle es sahen: »Viel eher sind es drei Männer, Sir. Und zwei von ihnen tragen Waffen. Einer von ihnen hat auf uns geschossen.«

»Sie haben uns gesehen«, sagte Señor Fernandez, und in dem Moment, als er das sagte, hatte Lindsey seine Waffe in der Hand. Er war der Älteste und Erfahrenste der drei und gewöhnlich war er schwer aus der Ruhe zu bringen. Aber über die Isla Maldita hatte er schon zu viel gehört. Sie machte ihn nervös. Er hätte es niemals zugegeben: Er hatte Angst.

Er wusste nicht, wie viele Männer noch dort oben im Wald waren und wer sie waren und was sie vorhatten. Er sah, wie einer der Männer seine Waffe von der Schulter nahm. Lindsey entsicherte das Gewehr.

»Nein«, sagte Waterweg da auf einmal. »Warten Sie. Tun Sie das nicht!«

Lindsey sah ihn nicht an. Er zielte. »Sie haben mir nichts zu befehlen«, sagte er mit einem unangenehmen Gefühl im Magen. Was war mit Waterweg los? Er war sein Mann. Er arbeitete für ihn, für Amerika, für den Frieden, er – er schlug Lindsey mit einer geübten Bewegung das Gewehr aus der Hand.

»Sie dürfen nicht schießen!«, rief Waterweg. »Ich –«

Weiter kam er nicht. Es ging alles zu schnell. Später wurde oft über die Reihenfolge der Dinge gesprochen, aber später war es zu spät. Ben Miller sah seine Chance, endlich etwas Nützliches zu tun. Im Grunde seines Herzens wollte auch er ein Held sein, wie der Junge, den er versehentlich auf den Pazifik hinaus-geschickt hatte. Als er sah, wie Thomas Waterweg seinen Vorgesetzten angriff, sprang er nach vorn und rang Waterweg zu Boden. Lindsey hob sein Gewehr auf, Waterweg rollte zur Seite und plötzlich war da eine Pistole in seiner Hand. Er richtete sie auf Bens Gesicht.

»Wenn Sie schießen, Lindsey, schieße ich auch«, sagte er kalt. »Ich weiß, wer die dort oben sind.«

»Deutsche«, sagte Parker.

»Ihre Leute«, sagte Lindsey.

»Ja«, sagte Waterweg. »Meine Leute. Aber …«

»Komisch«, sagte Parker. »Ich habe es die ganze Zeit geahnt. Es hat mich von Anfang an gewundert, dass Sie, Sie als Deutscher, für uns arbeiten.« Er stieß mit dem Fuß nach Waterweg und die Pistole segelte durch die Luft. Ben hielt Waterweg noch immer am Boden fest. Er wehrte sich nicht.