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Es war zwei Uhr morgens. Wo die Straße aufhörte, zog eine leuchtende Riesenapfelsine empor. Die Wolken am Himmel und der Rauch über den Schornsteinen waren purpurrot gefärbt.

Im gedämpften Morgenlicht wirkten die Dinge kantig und scharf.

Ein Hund, der mitten auf der Straße schlief, warf einen ungewöhnlich langen, zerrissenen Schatten. Vom Jenissej her scholl der törichte Ruf eines Tauchers herüber.

Jurka hatte keine Lust zu schlafen. Er schob mit dem Ellbogen wie zufällig die Aktentasche über das neben ihm liegende Heft und bettelte: „Noch eine halbe Stunde, Mutti."

„Sofort legst du dich hin! Morgen kommst du wieder nicht aus den Federn. Den ganzen Tag hast du Zeit gehabt."

Aber Jurka ließ sich so nicht abspeisen. „Wir müssen morgen einen Aufsatz abgeben", schwindelte er. „Ich bin gleich fertig."

„Das schaffst du schon. Du brauchst doch erst zur zweiten Schicht in die Schule."

Einige Minuten feilschten sie noch, im Flüsterton, damit Vater nicht wach wurde, dann gab Jurka klein bei. Er zog sich aus. Aber als Mutter fort war, stand er nochmals auf, holte unter der Aktentasche das blaue Heft hervor und sprang wieder ins Bett.

Die winzigen Buchstaben zu entziffern war nicht einfach, zumal der Besitzer des Heftes zahlreiche Wörter durchgestrichen und die Verbesserungen darübergeschrieben hatte. Jurka las bereits den zweiten Tag, mühsam, ähnlich wie man ein Bilderrätsel deutet, wählte hier ein Wort aus, dort eins, bemühte sich, die dazwischenliegenden Stellen zu erfassen, in den Sinn der tanzenden Schnörkel einzudringen, um schließlich alles zu einem Ganzen zu verbinden.

Bisher hatte er weder Dimka noch Petka von seinem Fund erzählt. Erst wollte er den gesamten Text enträtseln. Na, die beiden würden Augen machen.

Wie mochte dieses Heft, in dem von so Geheimnisvollem und Unbekanntem die Rede war, nur vor das Haus gekommen sein, und wer hatte das alles aufgeschrieben? Jurka brannte darauf, zu erfahren, wo er das Land mit dem klingenden Namen suchen sollte. Atlantis — das klang anheimelnd und vertraut.

Aber Jurka ist nicht nur ein Träumer, sondern auch ein Neidhammel, eifersüchtig auf die Geier, die, wie es scheint, stundenlang ohne Flügelschlag dahin-schweben. Diese dummen Vögel! Ihnen ist es beschieden, hoch in die Lüfte zu steigen. Doch was wissen sie von ihrem Glück. In ferne Länder könnten sie fliegen, über große Städte, Berge und Dschungel hinweg, um alles zu sehen, wovon Jurka nur in Büchern gelesen hat. Aber die Geier fliegen nicht fort. Sie kreisen immer über dem gleichen Fleck, und selbst wenn sie eine Beute erspäht haben, sieht es aus, als glitten sie nur zögernd zur Erde.

Jurka beneidet auch die Kapitäne auf den Lastkähnen mit den nach Teer riechenden Brettern. Schiffe sind nicht so schnell wie Vögel, aber sie ziehen in die Ferne. Dickbäuchig, im Konvoi fahren sie durch die Flüsse bis zum Meer. Die unrasierten, barfüßigen Kapitäne trocknen auf den Dächern ihrer Kajüten die Nesselhemden. Auch sie scheinen nichts von ihrem Glück zu ahnen.

Kurz, Jurka ist eifersüchtig auf jeden, der das Glück hat, die Welt zu sehen, er beneidet alles, was da kriecht und fliegt, gleichgültig, ob es über Schienenstränge poltert oder in eine Staubwolke gehüllt durch die Straßen rast. Er bewundert alle Helden und Reisenden. Was er um sich her erblickt, kommt ihm langweilig und gewöhnlich vor.

„Ich bin schon fast dreizehn", hat er neulich zu seinem Vater gesagt, „aber aus Ust-Kamensk noch nicht rausgekommen."

Da hat ihn der Vater ausgelacht. Jurka war beleidigt. Ach, es ist schon ein Kreuz. Nicht einmal der eigene Vater begreift, wie herrlich es wäre, jeden Tag in einer anderen Stadt zu sein.

Als der Schlaf endlich kam, sah Jurka azurne Wellen und träumte von Häusern, durch deren Fenster die Fische schwammen.

Ja, das blaue Heft war in die richtigen Hände geraten. 

IV  Der Große und der Kleine

Wenn Jurka den Wunsch verspürt, mit offenen Augen zu träumen, geht er an den Fluß.

Stets braucht er jemand, der ihm zuhört. Aber zuzuhören ist schrecklich schwer, weil jeder von sich erzählen möchte. Kaum ist ein Satz zu Ende gesprochen, geht es los: „Ja, sehr schön. Aber ich, versteht ihr, ich mache das so..." Und obgleich Jurka ganz genau weiß, daß er jetzt etwas viel Wichtigeres zu sagen hätte als der andere, folgt er dem Gebot der Höflichkeit und schweigt.

Weil er gern reden möchte, schwillt ihm die Zunge im Mund, doch er hält sich zurück. 

Was sind das für langweilige Kerle, denkt er traurig, haben immer nur sich im Kopf. Wen interessiert schon ihr Geschwätz.

Da lobt er sich Pawel, den Hafenmeister.

Das ist ein eigenartiger Mensch. Manchmal gibt er sich furchtbar erwachsen und tut unnahbar, besonders wenn jemand in der Nähe ist. Dann weiß Jurka, daß Pawel älter wirken möchte, wie ja überhaupt alle Menschen für älter gehalten werden wollen, als sie tatsächlich sind, jedenfalls meint das Jurka. In seinem Zimmer an der Anlegestelle aber ist Pawel wie ausgewechselt. Dort zeigt er seinem kleinen Gast gefährliche Judogriffe, oder er nimmt die Gitarre zur Hand und singt und spielt. Seine Lieder sind für Jurka freilich noch ein wenig zu hoch. Sie handeln von Mädchen, die am Ufer stehen und sehnsüchtig in die blaue Ferne schauen. Manchmal klingt es ganz traurig: „Doch von den drei Männern kehrt keiner zurück. Sie sanken in die Tiefe mit brechendem Blick..." 

Aber Pawel kann auch zuhören, und das ist die Hauptsache.

An jenem Tag nun, als Jurka zur Landungsstelle ging, stand ein Matrose am Geländer. Statt den Gruß des Jungen zu erwidern, brummte er nur: ,,Da bist du ja schon wieder."

„Das stimmt", entgegnete Jurka.

„Wenn ich euch noch einmal hier unten beim Angeln

erwische, zerbreche ich eure Ruten und werfe sie ins Wasser. Ihr trampelt mir noch den Steg kaputt."

„Ist Pawel Alexejewitsch zu Hause?" fragte Jurka trocken.

„Was willst du von ihm?" erwiderte der Matrose, sichtlich gelangweilt. „Er ist wohl dein Freund?" „Das weiß ich nicht genau", meinte Jurka.

„Aha", erklang es tiefsinnig und gedehnt aus dem Mund des Matrosen. „Weißt du überhaupt etwas?" Da wurde Jurka böse. „Also wo ist Pawel Alexejewitsch?" fragte er ungehalten.

„Beim Training." Der Matrose nickte in die Richtung, wo die Tunguska fließt, fügte jedoch schnell, als wäre ihm plötzlich noch etwas eingefallen, hinzu: „Aber was verstehst du davon? Dumm geboren und nichts dazugelernt. Wozu gehst du überhaupt in die Schule? Nur das eine schreib dir hinter die Ohren: Aus euren Angeln mache ich Kleinholz, ich sage das nicht zum Spaß. Von euch Rotznasen werde ich den Steg sauberhalten, so wahr ich kein Rotkopf bin."

Jurka maß die Entfernung bis zur Treppe mit den Augen. „Ein Rotkopf sind Sie nicht", sagte er, „das weiß ich, aber ein Glatzkopf."

Der Matrose, der selbst bei Tisch die Mütze aufbehielt, erstarrte. Er vergaß sogar den Mund zu schließen. Jurka hatte sich schon aus dem Staub gemacht. Das Herz drohte ihm zu stocken. Er empfand Angst und berauschte sich zugleich an seiner Kühnheit. Der Matrose rief ihm etwas nach, Ausdrücke, wie sie ein Erwachsener nie in den Mund nehmen sollte, am allerwenigsten vor Kindern.

Jurka lief an den letzten Häusern der Siedlung vorbei. Am Hang standen wie Frauen in Bauerntracht die dreieckigen Gatter der Blinkanlage mit den runden Leuchtköpfen. Hoch oben zogen dicke, schwere Wolken über den Fluß. Was sich im Wasser spiegelte, erinnerte an Türme, Kuppeln, menschliche Gestalten. Glichen diese Gebilde nicht dem Weichbild einer Stadt? Stand er nicht vor Atlantis?

Freilich dort lebten große, dunkelhäutige Menschen. Sie trugen weiße Kleider, waren bärenstark und sprachen mit wohlklingender Stimme. Im blauen Wasser schwammen sie von Insel zu Insel.