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Jakob atmete ruhig ein und aus, ihr Gesicht war noch immer faltenlos, vielleicht war der Leberfleck eine Spur größer geworden, und ihr Hals schien weicher, er hätte ihn gerne geküßt. Ihre Augen erwiderten unbefangen seinen Blick, sie hatte sich damals im Wald gefürchtet und in sein schlecht geheiztes Studentenzimmer mitnehmen lassen. Er begriff, daß sie nicht auf ihn gewartet hatte.

Ginka trat in die Tür, auf ihren Stöckelschuhen und schmerzlich grimassierend. Als sie die beiden auf dem Sofa fand, brach sie in Gelächter aus und rief den anderen etwas zu, das niemand verstand.

Zu Hause versuchte Isabelle noch einmal vergeblich, Alexa zu erreichen. Der Fernseher lief, in einer perfekten, geraden Linie flog das Flugzeug auf den zweiten Turm zu.

Am nächsten Morgen war sie im Büro die erste. Sie schaltete den Computer ein, öffnete die Fenster, das Kopfsteinpflaster sah nach dem gestrigen Regen frisch aus, die Backsteinbögen der S-Bahn-Trasse wirkten dagegen glanzlos, als dämmerten sie ihrem Verfall entgegen. Auf Isabelles Schreibtisch lagen Entwürfe, die sie gestern ausgedruckt hatte, um sie Andras und Peter zu zeigen, es war nicht dazu gekommen, die Buchstaben der Firmeninhaber, Pannier & Tarnow, leuchteten blau, energisch unter dem Firmennamen: Hausordnung — Berliner Hausverwaltung. Sie mochte diese kleinen Aufträge, die den beiden Männern auf die Nerven gingen, Firmenschild, Broschüre, Briefpapier, Visitenkarten. Fertig. Kleinvieh, das auch Mist machte. Nur die Broschüre fehlte noch.

Um zwölf Uhr, Peter war endlich gekommen, ging sie in die Mittagspause. Sie lief zum Hackeschen Markt, der unbelebter war als sonst um diese Zeit, doch die Cafe´s und Restaurants hatten geöffnet, Touristen saßen darin, erkennbar unentschlossen, ob sie ihr Sightseeing-Programm fortsetzen sollten oder nicht. Überall die Zeitungen mit den Fotos. Isabelle ging, in einem halblangen und engen Rock, Turnschuhe an den Füßen, bis zur Oranienburger Straße — vor der Synagoge standen mehr Polizisten als gewöhnlich — , kehrte um, bog schließlich in die Rosenthaler Straße ein. Der Himmel war bedeckt, Straße und Schaufenster milchig, Passanten wie hinter einer dünnen Decke verborgen, als müßte man abwarten, sich vielleicht verstecken, und was sollte man denken, mit was für einem Gesicht herumlaufen? Isabelle stoppte vor einem Schuhgeschäft, um ihr Spiegelbild zu mustern, das keine Gefühlsregung zeigte. Sie nestelte das Gummi aus ihrem Haar. Hellbraune, mitteldicke Haare. Das Gesicht nur deshalb nicht durchschnittlich, weil es zu vollkommen war, ein ebenmäßiges, blasses Oval. Sie drückte ihre Nase nach rechts und nach links. Neben ihr stand, wie aus dem Erdboden gestampft, ein kleines Mädchen, äffte sie nach, dann grinste es Isabelle an und rannte los, in winzigen, pinkfarbenen Ballerinas. Isabelle warf einen Blick auf ihre Schuhe und trat in den Laden. Die Verkäuferin hob mißmutig den Kopf, schob die aufgeschlagene Zeitung vom Tresen, um sie achtlos zu Boden fallen zu lassen, unbekümmert um den weiteren Sturz derer, die auf dem Foto wie in der Luft festgefroren waren. Um acht Uhr, hatte Jakob gesagt, würde er sie im Würgeengel erwarten, und das Problem, dachte Isabelle, waren nicht die Schuhe, sondern wie man sich darin bewegte. Sie ließ sich ein Paar mit kleinen, halbmondförmigen Absätzen geben, lang und schmal zulaufend, in einem matten, ungleichmäßigen Schwarzbraun. Auf der Höhe des Spanns wurden sie rechts und links von einem schwarzen Gummi gehalten; klappernd auf dem dünnen, neuen Parkett, das schon verkratzt war, lief Isabelle vor dem Spiegel auf und ab, — ich habe heute abend ein date, sagte sie, und … — Heute abend? vergewisserte sich die Verkäuferin, als hätte Isabelle eine Beerdigung angekündigt. Es war unsinnig, sich vorzustellen, daß wie in einem schlechten Film statt Jakob ihr Freiburger Liebhaber auftauchen könnte, den Geruch nach Heu in den Kleidern, der so wenig zu ihm paßte. Ebenso wie Jakob würde er sie sofort erkennen, weil sie sich kaum verändert hatte, seit sie zwanzig war, weil ihr Gesicht glatt blieb, unschuldig.

Weiter ging sie vor dem Spiegel auf und ab, den Blick auf ihre Füße gerichtet. Die Verkäuferin schaute zu, kreuzte ihre Beine in langen, engen Stoffhosen, spielte mit ihren Schuhen, hochhackig, rosa, mit einem goldenen Insekt statt einer Schnalle, zog eine Grimasse und schwieg. Sie hatte vergessen, Musik aufzulegen, aber welche Musik legte man an solch einem Tag auf? Und draußen die Autos, als führen sie langsamer als sonst. Durch die Schaufenster sah man ein Kind auf einem Fahrrad, die Mutter hielt den Gepäckträger fest. Jakob hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß sie sich heute abend sehen würden, im Würgeengel, und dann weiter. Dann sehen wir weiter. Er hatte es nicht sagen müssen, hatte nicht mehr gelächelt, während Ginka kicherte und betont rücksichtsvoll die Türe zuzog. Tak-Tak die halbmondförmigen Absätze auf dem Parkett, Musik hätte jetzt geholfen, ein Rhythmus, ein sentimentales Lied, die Verkäuferin ging zum Tresen, beugte sich zu einer Stereoanlage hinunter, anmutig, aus der Hüfte heraus, die Beine gerade durchgedrückt, nur ihr kleiner Po streckte sich nach hinten, die Bluse rutschte hinauf, gab ein Stück Rücken frei, beinahe weiß, sehr schlank, darunter die leichte Schwellung, wo die Pobacken ansetzten, glatt und fest. — Sieht cool aus, wirklich, sagte die Verkäuferin gleichgültig.

Vormittags hatte Isabelle endlich Alexa erreicht, — ich bitte dich, was soll uns passiert sein, im Hintergrund Claras Lachen, — um was machst du dir Sorgen? Es hatte Isabelle einen Stich gegeben, wie jedesmal, nicht an erster Stelle zu stehen, nicht die erste Geige zu spielen bei Alexa, niemals, und warum auch — weil sie eine Wohnung geteilt hatten für zwei Jahre? Jakob aber würde sie heute abend erwarten, — ich warte auf dich, hatte er gesagt und war gegangen. Im ersten Berliner Jahr hatte Isabelle wie besessen Kleider gekauft, um den Heidelberger, den Freiburger Provinzmief loszuwerden, doch Hanna hatte sie ausgelacht. Alexa war zu Clara gezogen, und seither hortete Isabelle das Geld, als horte sie ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, um in dem schmalen Spalt dazwischen unberührt zu bleiben, rührte das Geld, das ihre Eltern schickten, nicht an, zur freien Verfügung, wie ihr Vater jede Weihnachten und jeden Geburtstag schrieb. Isabelle schlüpfte aus den Schuhen, stand in schwarzen Nylonstrümpfen auf dem Parkettboden und nickte der Verkäuferin zu. 279 DM. Draußen setzte sich quietschend eine Straßenbahn in Bewegung. Entschlossen ließ Isabelle die Turnschuhe in eine aufgehaltene Papiertüte fallen, schlüpfte wieder in die neuen Schuhe; deutlich klackerten die Absätze auf dem Bürgersteig, das Kind mit dem Fahrrad, ein kleiner Junge, sah zu ihr auf, strahlte, als er sich auf den Sattel setzte und schwankend davonradelte. Fast wäre er gestürzt, als er sich noch einmal nach Isabelle umdrehte. Kinder mochten sie, als wäre sie selbst ein Kind, nur verkleidet, eine gealterte Vierzehnjährige, hatte Alexa behauptet und Kinderwäsche aus Frottee gekauft, in der sie Isabelle fotografierte. In der Luft kreiste ein Hubschrauber.

3

Jakob war früh aufgewacht und ging zu Fuß ins Büro. Nach dem gestrigen Regen trockneten die Straßen, aber es war ein kühler, unfreundlicher Tag. Im März war er dreiunddreißig Jahre alt geworden, die Zusammenfassungen eines verstrichenen Jahres schienen immer weniger Platz einzunehmen. Ab jetzt würde die Zeit anders vergehen, langsamer; für das, was vergangen war, genügte die Zusammenfassung, genügten ein paar Notizen zur Orientierung, dachte er, ein unkomplizierter Fall, der mit einem knappen Kommentar auskam. Die ernsten Gesichter der wenigen Passanten ärgerten ihn, es war ihnen nichts zugestoßen, es war nicht ausgemacht, daß ihnen etwas zustoßen würde, dachte er. Seit dem Tod seiner Mutter, war er selber von Unglück verschont geblieben. Sie war kurz vor seinem zwölften Geburtstag gestorben, und Tante Fini war zu ihm und seinem Vater gezogen, hatte mittags gekocht, mit dem Ausdruck heimlicher Genugtuung, daß ihr jüngerer Bruder ohne sie nicht zurechtkam, daß die Ehe mit einer Kleinbürgerin aus Pommern doch gescheitert war.