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Am Tod. Jakob hatte einige Wochen lang kaum gesprochen, schon gar nicht mit Tante Fini, die peu a` peu das Schreibzimmer ihrer Schwägerin Anngrit leer räumte, ärgerlich, daß gegen den Biedermeiersekretär, ein Geschenk ihres Bruders an seine Frau, nichts einzuwenden war. Die Briefe und Fotos räumte sie aber aus den Schubladen, und andere Möbel ließ sie abholen, zwei Sessel, ein Tischchen, die bunten Jakobsen-Stühle, die Anngrit Holbach in den siebziger Jahren gekauft hatte, durchsichtige, aufblasbare Plastikhocker, Lampen. Erst als Tante Fini vier Jahre später das Haus zugunsten der neuen Freundin ihres Bruders, Gertrud, hatte räumen müssen, bemerkte Jakob, wie sehr es verändert war. Er versuchte sich an seine Mutter zu erinnern, an die hellen Farben und klaren Formen, die sie geliebt hatte, und er sehnte den Moment herbei, da er ausziehen würde, nicht mehr die Tür in die dunkle Stille des Hauses öffnen müßte. Auch Gertruds Zuversicht war bald aufgebraucht. Sie kam abends, vor seinem Vater, mit Tüten beladen nach Hause, rief Jakob laut beim Namen, spielte in der Küche ihre alten Kassetten, Beatles, Fats Waller, Thelonious Monk. Aber es hielt nicht lange vor, nichts hielt lange vor in diesem Haus, das sie bewohnten wie Durchreisende, die rücksichtsvoll mit den fremden Möbeln umgingen und auf die Abreise warteten. Sein Vater blieb alleine zurück, denn mit Jakob, sagte Gertrud zu Jakob, würde auch sie das Haus verlassen. Er bildete sich nicht ein, daß sie seinetwegen geblieben war, aber er war in sie verliebt. Zum Abschied, sie hatte einen Minibus geliehen und ihn mit all seinen Sachen nach Freiburg gefahren, küßte sie ihn auf den Mund. Die Matratze hatten sie gemeinsam in sein neues Zimmer getragen, und monatelang grämte er sich, daß er nicht mit ihr geschlafen hatte. Bald darauf fing er einen Flirt mit seiner Mitbewohnerin an und schlief mit ihr, doch er bewahrte die Erinnerung an Gertrud, die wirklich seinen Vater verließ, wartete auf einen Brief, der nie eintraf, und erst als er sich, drei Jahre später, in einer Vorlesung über Rechtsgeschichte, neben Isabelle setzte, verliebte er sich wieder.

Er hatte Hans. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn er gefragt wurde, woher er Hans kannte. Tatsächlich hatten sie sich in Freiburg kennengelernt, am Tag nach Jakobs Ankunft, an dem Tag, an dem er sich neue Schuhe gekauft hatte und zum ersten Mal in die Mensa zum Essen ging, in teuren Herrenschuhen von Bally, mit denen er den Anfang von etwas markieren wollte, seinen Anfang, den Punkt, von dem an er eigene Erinnerungen haben oder nicht haben würde, die Freiheit abzustreifen, was das kleinliche Gedächtnis anderer ihm aufzuzwingen versuchte. Sie waren beide alleine nach Freiburg gekommen, ohne Freunde oder Mitschüler, die ebenfalls dort Jura studierten, und es traf sich, daß sie in der Schlange vor der Mensa nebeneinanderstanden, in dem warmen Luftzug, vor dem verdreckten, vollgekritzelten Beton, im Essensgeruch, der Jakob Übelkeit bereitete und Hans wunderte. Schritt für Schritt schoben sie sich vorwärts, an einem Bücherstand vorbei, Tag für Tag würden sie hier stehen, und Jakob heftete seinen Blick auf das neue, braune Leder, auf die Nähte, die zuverlässig aussahen und haltbar sein würden. Weil er nicht aufpaßte, rempelte er Hans an, der vor ihm stand, mit dem Studentenausweis in der Hand, als rechnete er jeden Moment damit, sich rechtfertigen zu müssen. Er kam aus einem kleinen Dorf im Schwarzwald, wo seine Eltern einen Bauernhof hatten.

Die ersten vier Semester waren rasch vergangen. Sie wanderten über den Bettlerpfad nach Staufen und weiter nach Basel. Sie fuhren per Anhalter nach Straßburg. Einmal nahm Hans ihn an Weihnachten zu seinen Eltern mit.

Während Hans Vorlesungen in Kunstgeschichte besuchte und keine größere Ausstellung in Basel oder Stuttgart verpaßte, ging Jakob lieber ins Kino oder Konzert, für Politik interessierte er sich wochenweise, dann studierte er mehrere Zeitungen am Tag, ausländische auch. Am Tag nach dem Mauerfall war er morgens zu einem Reisebüro gelaufen, hatte gewartet, bis der Besitzer kam, und zwei Flüge nach Berlin gebucht. Das Flugzeug flog von Stuttgart ab, er lieh sich ein Auto und fuhr mit Hans los, sie waren jedoch zu spät und erreichten den Flug nicht mehr. Danach hatte Jakobs Neugierde wieder nachgelassen, die Regierungen Modrow und de Maizie` re, die Kommentare seines Vaters, der plötzlich fast täglich anrief, stießen ihn ab. Er fühlte sich, als zöge man ihm den Boden unter den Füßen weg, sein Land, die Bundesrepublik, verschwand, so daß er auswanderte, ohne es zu wollen, ohne sich vom Fleck zu rühren. Auch das war keine anhaltende Stimmung. Hans lachte ihn aus. Der Einigungsvertrag und das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen beschäftigten Jakob dann aber dauerhaft. Ein Gespräch mit seinem Vater darüber setzte dessen Anrufen ein Ende. An Weihnachten klärte Tante Fini ihn, nicht ohne Häme, darüber auf, daß derlei Vorgänge unangenehme Erinnerungen weckten. In den fünfziger Jahren habe Herr Holbach um seine Firma gebangt, die zu einem sehr anständigen Preis dem jüdischen Partner von Jakobs Großvater abgekauft worden sei. Man wisse nie, so Tante Fini, was die Zukunft bereithielt. Jakob nahm sich vor, dem nachzugehen, das Wort Arisierung aber schreckte ihn zunächst, und im Herbst lernte er Isabelle kennen. Ein einziger gemeinsamer Spaziergang führte sie den Bromberg hinauf, im Tal, neblig, nieselig, lag Freiburg und verschluckte Isabelle nach nur einer Nacht. 1992 legte Jakob das Examen ab und wußte, daß er sein Thema gefunden hatte: offene Vermögensfragen. Zwischen ihm und Hans war ausgemacht, nach Berlin zu ziehen. 1993 traten sie beide das Referendariat in Berlin an, Jakob in der Kanzlei Golbert & Schreiber, die sich auf Restitution spezialisiert hatte und auf Immobilien in Berlin und Brandenburg. Den Gedanken an Isabelle schlug er sich nicht aus dem Kopf. Er mochte, in seinem persönlichen Leben, Kausalitäten nicht; den Gedanken, er könne sich für Restitutionsfragen interessieren, weil sein Vater beinahe einem solchen Vorgang ausgesetzt worden wäre, drängte er beiseite. Zu seiner Liebe zu Isabelle gehörte das Zufällige ihrer Begegnung unbedingt dazu. Andererseits mußte sie in gewisser Weise ihm restituiert werden: Er hatte lange genug darauf gewartet, und wie man es drehte und wendete, dieses Warten selbst war ein Anspruch. Jakob war beileibe kein Materialist, er mißtraute nur allem, was mysteriös schien, und er mochte keine verborgenen Handlungsmotive, keine Veränderungen, die nicht sichtbar wurden. Mit Grundstücken und Häusern beschäftigte er sich gerne. Er war gerne durch Brandenburg gefahren, es erinnerte ihn an eine Zeit, die er nicht kannte, als würde seiner Erinnerung etwas hinzugefügt über den Käfig seines Lebens hinaus. Die mißliebige Kausalität ließ sich nicht durchbrechen, aber etwas kreuzte sich, eine Zeitachse mit einer zweiten, empfand er auf seiner Fahrt durch die Dörfer, auf dem Weg zu irgendeinem Grundbuchamt, wo er Auszüge, Besitzwechsel einsehen sollte. Nach dem Krieg, als seine Mutter aus Pommern durch Brandenburg gekommen war, mußte es ungefähr so ausgesehen haben. Gepflasterte Straßen, die durch verloren schlafende Dörfer führten, in denen die Fenster fest geschlossen waren, damit keiner eindrang. In den Gesichtern derer, mit denen er sprach, Gier und Angst. Etwas Untertäniges, manchmal mit Hoffnung, manchmal mit Haß gemischt. Selten Ergebenheit. Oft schienen die Gesichter entrückt, die Augen wie überwachsen von den Ablagerungen der Geschichte, die er, Blatt für Blatt, Grundbucheintrag für Grundbucheintrag, nachzuvollziehen versuchte. Es war, als müßte man ein Puzzle auseinandernehmen, um die Teile, die ein trügerisches Bild ergeben hatten, in ihre eigentliche Reihenfolge zu bringen. Schutzwürdig und damit redlich sollen diejenigen sein, die sich auf die in der ehemaligen DDR formell bestehende Rechtslage eingerichtet und sich — gemessen an dieser Rechtslage — korrekt verhalten haben. Den Satz aus Fiebergs und Reichenbachs Einführung in das Vermögensgesetz kannte er inzwischen auswendig. Absichtlich hatte er einen alten Golf gekauft, kein neues Auto. Für die meisten war er trotzdem ein Abgesandter der Siegermächte. Die Sowjetunion gehörte nicht mehr dazu.