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Nach dem Referendariat bekam er ein Angebot von Golbert & Schreiber. Schreiber selbst und Robert, der gleichzeitig mit Jakob in die Kanzlei eingetreten war, befaßten sich mit Paragraph 1, Absatz 6 des Vermögensgesetzes: Dieses Gesetz ist entsprechend auf vermögensrechtliche Ansprüche von Bürgern und Vereinigungen anzuwenden, die in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 aus rassischen, politischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt wurden und deshalb ihr Vermögen infolge von Zwangsverkäufen, Enteignungen oder auf andere Weise verloren haben. Er selbst spezialisierte sich auf Fragen des Investitionsvorrangs. War ein vormaliger Besitzer nicht auffindbar, durfte ein Investor, unbeschadet der ungeklärten Besitzverhältnisse, seine Pläne in die Tat umsetzen. Vor den endgültigen Entscheidungen mußte das Leben weitergehen.

Hans war in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung in der Wiener Straße geblieben. Noch nachdem Jakob längst ausgezogen war, trafen sie sich dort alle paar Tage, er und Jonas, Marianne, Patrick, mitsamt deren wechselnden Bekanntschaften, Maler meistens wie Jonas und Patrick oder Germanisten, Journalisten, nie ein Rechtsanwalt. Sie saßen an dem langen und wackeligen Tisch, den Patrick durch eine Spanholzplatte und zwei zusätzliche Füße auf zweieinhalb Meter verlängert hatte, die stillschweigende Verabredung besagte, daß jeder etwas zu essen oder wenigstens eine Flasche Wein mitbrachte, und später, als Hans nach dem Referendariat, dem zweiten Staatsexamen seine erste Stelle hatte und genug verdiente, kaufte er große, neue Töpfe und Pfannen, einen zweiten Herd, ließ sich den Wein liefern, duldete nicht länger, daß diejenigen Freunde, die sich mit Stipendien, dem viel zu seltenen Verkauf eines Bildes gerade über Wasser hielten, irgend etwas mitbrachten außer allenfalls einer Zeichnung, einem Druck, einem Foto. In einem der beiden großen Zimmer, die er immerhin renoviert hatte, stand ein Grafikschrank. Die Wände waren weiß gestrichen, kahl.

Im Gegensatz zu Hans zog Jakob gerne um. Bücher und Kleider in Kartons, und weg damit. Verschenkte Bett und Tisch und Stuhl, kaufte etwas Neues, und so war auch Hans immer zufriedenstellend eingerichtet und ausgerüstet. — Idiot, was meinst du, für wen ich dieses Bett gekauft habe? Bestimmt nicht, um selber die nächsten zehn Jahre darin zu schlafen. Eines ihrer Spiele, die so lange schon und so gut funktionierten, daß Jakob manchmal zu glauben begann, es würde kein böses Erwachen geben eines Tages. Jedenfalls nicht, was Hans betraf. Und vielleicht gar nicht. Aus dem Kindergarten, antwortete Jakob, wenn sie gefragt wurden, woher sie sich kannten; inzwischen entsprach es beinahe der Wahrheit, sie kannten sich, seit sie denken konnten oder wollten. Da sie beide keine feste Freundin hatten, galten sie fast als Paar. Warum Hans alleine blieb, wußte nicht einmal Jakob. Er selbst traf keine Frau, die ihn begeisterte, also wartete er auf Isabelle. Zehn Jahre hatte er sich, nicht gänzlich ernsthaft, als Frist gesetzt. Wenn er Isabelle nicht bis 2001 wiedergefunden hatte, würde er sie vergessen.

Um zu feiern, daß er im August 2001 Partner bei Golbert & Schreiber geworden war, lud er Hans ins Diekmann ein, danach gingen sie in den Würgeengel. Es war Zufall, daß Hans sich zur Theke drängte, um ihnen zwei Whisky zu holen, Jakob unaufmerksam den Stimmen neben ihm lauschte. Isabelle. Zum ersten Mal seit zehn Jahren hörte er ihren Namen. Es war nicht schwierig gewesen, mit Ginka ins Gespräch zu kommen. Als sie ihn für den elften September einlud, verlegte er den Termin mit einem New Yorker Investor auf den neunten September und bat Julia, die Sekretärin, seinen Flug umzubuchen.

Er dachte an den Namen, der ihn damals überrascht hatte, an ihr Gesicht, ebenmäßig und eigenartig abwesend, als würde sie auf etwas warten, ohne neugierig zu sein. Sie hatte in nichts den Jurastudentinnen geähnelt, sie sagte, sie wolle Malerei oder Design studieren. Er erinnerte sich an ihr Gesicht, an ihre kleinen Brüste und daran, daß er keinen Augenblick verlegen gewesen war. Ich habe Isabelle wiedergefunden, hatte er noch im Würgeengel grinsend zu Hans gesagt.

Er hatte sie tatsächlich wiedergefunden. Es war der falsche Tag gewesen, bis zum Abend fürchtete er, die Einladung sei obsolet, die Party würde nicht stattfinden, doch dann war er mit dem Taxi in die Schlüterstraße gefahren, hatte geklingelt und war ohne weiteres eingelassen worden. Da war Isabelle.

Nach einem unkonzentrierten Vormittag in der Kanzlei wanderte er in der Mittagspause unruhig Richtung Potsdamer Platz und wieder zurück zur Mauerstraße. Er wollte die Zeitungen nicht sehen, die Gesprächsfetzen nicht hören. Vorgestern noch war er dort gewesen. Aber er war rechtzeitig abgereist. Er war verschont geblieben, Isabelle, dachte er, hatte ihn gerettet.

4

Mae war außer sich, sie klammerte sich an ihn, im Treppenhaus, schluchzend. Völlig hysterisch. Jim hörte, daß der Fernseher lief. Zu dritt waren sie unterwegs gewesen, Albert, Ben und er, und er hatte mit Ben gestritten, während Albert schwieg, wieder und wieder dieselbe CD abspielte, etwas, das Jim ekelte, als pinkelte Albert ins Auto. Es war nicht die Musik, sondern wie Albert zuhörte, großspurig mit den Händen in der Luft herumfuchtelte und nur nach dem Lenker griff, wenn es unvermeidlich war. Oder wenn ein Polizeiauto auftauchte, an diesem Tag häufiger als gewöhnlich, auf ihrer Strecke von Süden her, vor allem um die Docks herum, an den Zufahrtsstraßen, bei Silvertown. Jim fluchte, weil Ben diesmal zweifellos recht hatte mit seiner Nervosität. Was zum Teufel machte die Polizei hier? Aber Albert weigerte sich, das Radio einzuschalten, drehte die Musik lauter. Die Bässe, ein Chor, eine künstliche, elektronisch klingende Frauenstimme, because it’s been so long, that I can’t explain and it’s been so long, right now, so wrong, er konnte sie nicht abschütteln, die hartnäckige, enervierende Stimme, und kurz darauf — Albert hatte ihn bis zur Pentonville Road gefahren — Maes hysterisches Schluchzen. Seine Hand traf ihre Schläfe, weil sie sich duckte oder stolperte. Er faßte sie unterm Arm und zog sie ins Wohnzimmer, in dem Augenblick, als auf dem Bildschirm der zweite der Türme in sich zusammensackte, zeitlupenlangsam, oder wie war das? Ein Trick? Bis er die Verbindung herstellte, zwischen den Bildern und Maes Hysterie, zwischen den Polizeiautos und den Bildern. Aber er begriff nicht, was geschah. Mae redete von den Toten, wiegte sich, als hielte sie ein Kind im Arm, später wiederholte sie immer wieder, was sie gehört hatte, daß es nie mehr sein würde wie bisher, die ganze Welt, das Leben, und nachts, als sie endlich eingeschlafen war, wimmerte sie. Langgezogen, pausenlos, bis er sie stieß oder rüttelte, ein winziges, nicht endendes Wimmern, wie ein loop, als wäre das Zeitmaß verändert, als hieße die gültige Geschwindigkeit seit diesem langsamen Zusammensacken der Türme Zeitlupe. Tagelang ließ Mae alles durcheinanderliegen, in der Küche und im Zimmer auch. Irgendwann blieb das Fenster offenstehen, der Teppich wurde naß, es stank, Mae sagte, daß es stank. Ließ alles liegen. Der Geruch blieb, nachdem Jim kurzerhand den Teppich herausgerissen hatte. Kein Leben so. Was ging Mae das alles an, was ging ihn das an? Auf dem Estrich lange Streifen von Klebstoff. Und wie sie auf dem Sofa hockte, dem gelben Sofa, früher gelben Sofa, früher fast neuen Sofa, das Albert ihnen gebracht hatte, wie auch den Tisch und die Stühle, seine Wohnungen, für meine Mitarbeiter, was Ben wie ein Papagei nachplapperte. Ben, der stolz darauf war, Alberts rechte Hand zu sein. Er hatte ein Auge auf Mae geworfen, ein mieses, unterwürfiges Arschloch, schaffte es, Jim aufzubringen, kam ungefragt, lästerte über die Wohnung, wo es stank und nichts im Kühlschrank war. Ein paar größere Sachen gab es, in den Vororten und sogar außerhalb, Albert hatte die Idee, bei Leuten einzubrechen, die aus London weggezogen waren, sich sicher fühlten, vor allem mittags sicher fühlten, tagsüber, in den kleinen Vororten und Städtchen, wo alles so friedlich war, daß sie keine Alarmanlagen einbauten und sogar die Fenster offenließen und einander vertrauten. Keine Einbrüche mehr, hatte er vor einem Jahr verkündet, aber jetzt galt das nicht mehr, und Jim sah die Gärten, kleine Häuser mit Gärten davor oder drumherum, er war seit zehn Jahren nicht aus London herausgekommen, und jetzt all diese Häuser, gepflegt, friedlich. Mae und er hatten nicht einmal ein Bett, nur eine Matratze. Field Street, der reine Hohn, kein Grün weit und breit, statt dessen Lärm und Baustellen und Dreck. Was Mae tat, wohin sie ging, sobald er aus dem Haus war, wußte Jim nicht. Die Straße hinunter, Richtung King’s Cross, wo Albert sie aufgesammelt hatte. So laut hier, daß Maes Husten leise klang. Und er dachte an all die Programme für Aussteiger. Nur, wer glaubte daran? Anti-Drogen, Anti-Prostitution, Anti-Kriminalität. Er wollte weg, mit Mae. Sie lag auf dem Sofa ausgestreckt, sagte, sie wolle aufhören, versprach es ihm. Am Fenster stand sie, wenn er ging, lag auf dem Sofa, wenn er zurückkam, ihr Körper wurde schlaff, sobald er sie umarmte, und wenn er in sie eindrang, hustete sie, hustete, bis er fühlte, daß er taub wurde. — Hör endlich auf! Er mußte genug Geld zusammenkriegen, damit sie wegkonnten. Keine Einbrüche mehr, nur noch Drogen, hatte Albert gesagt. Dann doch wieder Einbrüche, und Jim machte mit, um endlich ein paar Tausend Pfund zusammenzubekommen. Es waren mehr Polizisten, die herumliefen, kontrollierten. Der Spätherbst war kalt und naß. Die Fenster schlossen nicht, oder Mae vergaß, sie zu schließen. Die Heizung funktionierte nicht oder funktionierte allzugut, es war unerträglich heiß, es stank, Ben war dagewesen, hatte ihr irgendwas gebracht, Tabletten. Da stand sie, am Fenster, richtete sich auf, trug ein eng anliegendes blaues Wollkleid, dunkelblau, keine Schuhe. Sah aus wie ein Schulmädchen. Ihre etwas zu kräftigen, hübschen Oberschenkel zeichneten sich deutlich ab. Da stand Mae, hielt sich an der Tür fest, die Augen halb geschlossen. Da stand Mae, sah ihn, lachte, lachte und fiel auf das Sofa. Gelb, früher einmal gelb. Beugte sich vor, würgte, Schleim tropfte aus ihrem Mund; sie wurde immer dünner.