Выбрать главу

Später dachte er, daß sie zum ersten Mal verschwunden war, als sie dort alleine auf der Bank sitzen blieb, in einem kleinen Mantel, den sie nicht zuknöpfte, obwohl es kalt war, er hatte sich noch einmal umgedreht, aber sie hielt den Kopf gesenkt. Da ging er weiter, bis er sie nicht mehr sehen konnte, und sie verschwand, obwohl sie doch still saß und sich nicht rührte.

Am nächsten Tag erklärte er Albert, daß er in Zukunft fünfzig Prozent wolle, daß er das Geld wolle, bar, auf die Hand. Albert lachte, aber es war, wie er selbst zu Jim gesagt hatte: Wenn du keine Angst mehr hast, tun die Leute, was du willst. So war es, und Albert willigte ein, bat ihn nur um etwas Geduld, willigte aber ein und streckte Jim die Hand hin. Sie wollten aus der Stadt weg und aufs Land ziehen, das sagte er Albert nicht, und dann traf er Damian, der ihm anbot, seine Wohnung zu benutzen, für ein paar Monate oder länger, eine richtige Wohnung mit zwei Zimmern, in Kentish Town, und sogar einen kleinen Garten gab es. Aber als Jim nach Hause kam, roch er den Gasgeruch und dachte, es ist gleichgültig, woran man erstickt, bis er doch losrannte und die Fenster aufriß und den Herd abdrehte. Sie lag da wie ein Tier, auf dem Küchenboden, und er erzählte ihr nicht von der Wohnung, er stand in der Küche, in dem schwächer werdenden Gasgeruch, trank ein Bier nach dem anderen, er sah im Hof hinterm Haus ein Kind, das mit einer Wäscheleine spielte, es fing wilde Pferde, schleuderte die Wäscheleine wie ein Lasso, und im nächsten Hof stand über ein Moped gebeugt ein Junge, klapperte mit Schraubenziehern und Ersatzteilen, Licht ging an in den Fenstern.

Es wurde Frühling. Vor einem Jahr waren sie nach West Finchley hinausgefahren und hatten Pfannkuchen gegessen, er hatte sie eingeladen und ihr die Tür aufgehalten, er hatte ihr Blumen gekauft, Tulpen, und zu Ostern einen kleinen Stoffhasen. Halbe Nächte hatten sie vor dem Fernseher gesessen und sich umarmt, und sonntags wünschte er sich ein Roast mit Gemüse und Kartoffeln. Er erinnerte sich daran und schaute in den Hof, er erinnerte sich, daß er vor ein paar Tagen ebenso am Fenster gestanden und sich an das vergangene Frühjahr erinnert hatte. — Hör mal, die Kleine. ., setzte Albert an und zuckte dann mit den Achseln. — Sie tut dir nicht gut. Jim wollte es nicht hören, und es war Ben, der sie nicht in Ruhe ließ, der Mae Sachen brachte, Amphetamine, Valium, sie gegen ihn, Jim, aufhetzte. Irgendwann hatte es soweit kommen müssen. Jim sah, daß Mae blutete. Sie lag auf dem Boden vor dem Sofa, blutete, weinte. Sie hatte gesagt, daß sie die Toten sehe, die Toten und die Sterbenden, sie hörte nicht auf, davon zu reden, und er vergaß, wie sie ausgesehen hatte im letzten Frühjahr und noch im Spätsommer, ihr gleichmäßiges, ovales Gesicht, von den dunkelblonden Haaren eingerahmt und mit Augen, die manchmal grau und manchmal grün waren. Sie hatte etwas Kindliches, weich und glatt und nicht dünn, aber auch nicht dick, es war alles genau richtig mit ihr gewesen. Er hatte sie festgehalten, mit beiden Armen, und sie gehörte ihm, er hatte ihren Nacken umfaßt und gedacht, daß er ebenso zerbrechlich war wie der eines Kätzchens. Sie würden aufs Land ziehen und im Garten Tee trinken. Er ging in die Küche, um ruhiger zu werden, aber dann hörte er, wie sie telefonierte, mit Ben telefonierte, — komm schnell, flehte sie, und sie meinte nicht ihn, schrie auf, als er hereinkam, ein Messer in der Hand. Ben war zehn Minuten später da, schloß die Tür auf, Mae mußte ihm den Schlüssel gegeben haben, sie lag jetzt still, und Jim stand auf, er ging an Ben vorbei, der blaß war und sagte, — du haust hier besser ab, und nach dem Telefon griff.

Er stand eine Weile vor dem Haus, lief dann langsam los, alles war wie in Umrißlinien, nur die Umrisse, sogar seine Eltern fielen ihm ein, wie sie am Eßtisch saßen und auf ihn warteten, wie sie zu dritt auf seinen Bruder warteten, der noch nicht krank war und gleich kommen mußte, er konnte sich daran erinnern, auch wenn etwas fehlte, als wäre ein Loch in seinen Gedanken, da, wo eben etwas geschehen war, und so stand er auf der Pentonville Road, bis er die Sirenen eines Krankenwagens hörte und weiterlief. Man erinnerte sich an eine glückliche Zeit wie an etwas, das wirklich stattgefunden hatte. Es waren aber nur die Umrisse übriggeblieben, die Angst, nicht zu wissen, was geschehen war. Jim tastete nach dem Schlüssel, den Damian ihm gegeben hatte, und fuhr hoch nach Kentish Town, fand die Straße, die Lady Margaret Road, und es war still, eine Katze sprang über die Straße, schwarz und weiß, versteckte sich unter einem Auto.

Ein paar Tage später rief Albert ihn an. Über Mae sagte er nichts, und Jim fragte nicht nach.

5

Es war noch immer Hannas Schlüssel, mit dem Isabelle die Eingangstür des Hauses aufschloß, in dem sich die Agentur befand. Am Tag vor ihrem letzten Krankenhausaufenthalt hatte Hanna ihr den Schlüssel überreicht, mit diesem Lächeln, immer strahlender, je fahler die Haut wurde, je mehr ihr Gesicht einfiel, bis nichts blieb als graue Augen und der volle Mund. Hanna hatte Isabelle umarmt, sie sanft mit ihrer Knochenhand in die Seite geboxt. — Nun komm schon, einmal sehen wir uns mindestens noch. Sie hatten sich mehr als nur einmal gesehen, denn der Tod schien verwirrt, abgelenkt durch das zärtliche Geflüster an Hannas Bett, durch Isabelles Gesicht, kindlicher denn je, und Peters Gelassenheit, der endlich seine Wut und die bitteren, ätzenden Sätze schluckte, die ihnen die letzten Monate vergällt hatten. Isabelle brachte den Schlüssel jedesmal ins Krankenhaus mit und hoffte, Hanna würde ihn zurückerbitten. Doch dann geschah, was zu erwarten war, Andras sagte es ihr, und sie liefen zusammen zur Charite´. Hannas Lippen waren zusammengepreßt, und kein Laut war zu hören, die Ärzte wußten nicht, ob sie Schmerzen litt oder nicht. Manchmal öffnete Hanna die Augen, doch schienen sie nichts wahrzunehmen, nichts anderes auszudrücken als den Entschluß zu sterben. Peter kam nachts, er schlief auf einer Pritsche, die die Schwestern für ihn aufstellten. Tagsüber ließ er sich nicht blicken, weder im Krankenhaus noch im Büro. So waren Andras und Isabelle zu zweit, den ganzen Tag lang und abends auch, denn Isabelle wollte nicht zurück in die leere Wohnung, die Alexa nur noch betrat, um etwas ein- oder auszupacken. In der Nacht, in der es vorbei war, schlief Isabelle bei Andras, er bezog ihr das Bett frisch und legte sich selbst auf das rote, durchgesessene Sofa, das wie ein lächerliches Requisit in seinem Wohnzimmer stand. Um fünf Uhr weckte sie Peters Telefonanruf, er bat sie, sich um das Büro zu kümmern, und sagte, daß er in einem Monat zurückkäme. Der 5. Oktober 1996 war Hannas Todestag gewesen, an diesem Tag hatte Isabelle zum ersten Mal die Hausund die Bürotür aufgeschlossen, mit Hannas Schlüssel, und auf ihrem Schreibtisch einen kurzen Brief gefunden, eine Art Testament, das ihr Hannas Anteile an der Agentur zusprach. Für Isabelle, die — außer während einiger Londoner Monate — nie Grafikdesign studiert hatte, war es ein Ritterschlag, und ein paar Minuten lang lag sie fassungslos in Andras’ Armen. Damals, vor fünf Jahren, hatte sie den Entschluß gefaßt, endlich ernst zu machen mit ihrem Beruf und ihrem Berliner Leben, aber immer war ihr etwas entglitten, wenn auch auf zufriedenstellende Weise, und schließlich hatte sie schon als Hannas Assistentin ebensooft bis spätabends gearbeitet, wie sie es jetzt tat.

Als sie, die Tüte mit ihren alten Turnschuhen in der Hand, die Bürotür öffnete, wäre sie beinahe über Andras gestolpert, der auf allen vieren kniete, die Zunge herausgestreckt, mit bekümmerter Miene, so, als müßte er etwas Verschüttetes auflecken. Für einen Augenblick verharrte er wie gelähmt, dann sprang er auf, während Peter, an seinem Tisch sitzend, scharf auflachte. Es war ein zorniges Lachen.