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— Andras, sagte er, wollte mir demonstrieren, wie Suchhunde arbeiten, zwischen all den Trümmern und in der Asche, die ihnen die Nase verklebt. Andras warf einen Blick auf Isabelles Füße. — Du hast dir Schuhe gekauft. — Ihr kotzt mich beide an, Peter warf im Aufstehen beinahe den Stuhl um, der eine spielt verrückt, und die andere hat nichts Besseres zu tun, als Shopping zu machen. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, öffnete Isabelle endlich den Mund. — Was ist los mit euch?

Doch Andras starrte stumm auf Isabelles Schuhe, nahm ihr die Tüte aus der Hand, holte einen nach dem anderen die beiden Turnschuhe heraus, stellte sie auf seinen Schreibtisch und strich sacht mit seinem Finger über die Schnürbänder, die Zunge, die Kappe. — Andras, hör auf damit! Es war still, auch hier war es still. Eine S-Bahn näherte sich stockend, blieb stehen. Andras drehte sich zwei-, dreimal um die eigene Achse, setzte sich auf die Tischplatte. Die S-Bahn war wieder angefahren, gewann an Fahrt, war verschwunden, bevor Isabelle sie mit den Augen zu fassen bekam, aber da war schon der nächste Zug, stand still, ruckte ein paar Meter vorwärts, hielt erneut an, und hinter den Scheiben tauchten Gesichter auf, als preßten sie sich nicht gegen Fensterglas, sondern gegen eine Linse, die vergrößerte, entstellte.

— Du bist ganz blaß, murmelte Andras, zögerte, ging ins Vorzimmer, das gleichzeitig als Küche diente, Honiggläser, Geschirr, Teebeutel, eine Espressomaschine, eine transportable Küche, schwer wie ein Eisenschrank, die Gasflasche unter dem Spülstein, zwei Flammen. Er setzte den Kessel auf, stellte auf ein Tablett eine Tasse, die Zuckerdose, das Milchkännchen, vergaß es zu füllen, wartete, bis das Wasser kochte, goß Tee auf. Im hinteren Raum hatten Isabelle und Hanna gearbeitet, im vorderen die beiden Männer. Nach Hannas Tod war Andras zu Isabelle gezogen, hatte Drähte die Wand entlang gespannt, um seine Entwürfe aufzuhängen und Isabelles dazu. Grünes Linoleum im hinteren Raum, rotes im vorderen, das Vorzimmer war blau. Isabelles Schreibtisch stand im rechten Winkel zwischen den beiden Fenstern, vor denen die Züge und S-Bahnen vorbeifuhren. Neben dem Computer, dessen Bildschirm über einer Kugel zu schweben schien, lagen in bunten Schüsselchen Radiergummis, Spitzer, kleine Fläschchen mit bunter Tinte, standen in Gläsern Stifte und Federn. Andras hatte sie ermuntert, wieder mit der Hand zu zeichnen, sogar zu aquarellieren, wie sie es als Schülerin zuletzt getan hatte, und sie gewöhnte sich an seine Arbeitsweise, zeichnete oft stundenlang Straßenszenen, Interieurs, Serien von Bildern, um erst ganz zum Schluß die eigentliche Aufgabe in Angriff zu nehmen. — Es funktioniert, hatte sie Peter triumphierend gesagt, du siehst doch, keine Zeitverschwendung, im Gegenteil. Sie liebte das Büro. New concept — new life, das war es gewesen, für sie jedenfalls, als sie in Berlin eingetroffen war, über eine Wohnungsannonce Alexa und durch Alexa Hanna gefunden hatte. Alles verdankte sie Alexa, hatte sich an sie geklammert, bis Alexa zu Clara zog und Isabelle zwang, endlich eine eigene Wohnung zu suchen.

Andras stellte das Tablett ab, kehrte noch einmal um, holte Kekse und ein Glas Honig, setzte sich. — Du bist blaß, trink eine Tasse Tee. Gestern um diese Zeit hatte Isabelle überlegt, ob sie Ginka bei den Vorbereitungen helfen sollte, und mit zwiespältigem Vergnügen den Abend erwartet, den Trubel und den Alkohol, die unausweichliche Choreographie dieser Abende, die Ginkas Stolz waren. Sie machte keinen Hehl daraus, daß sie Singles als Gäste generell bevorzugte, und auch zehn Paare kurz vor der goldenen Hochzeit hätten sie nicht abgehalten, ihre Party zu einer Single-Party zu machen. In den ersten Minuten schon trennte sie Partner voneinander, mit ein paar beißenden Sätzen, einem Kompliment, einer spöttischen, herablassenden Bemerkung, unfehlbar in ihrem Instinkt, den Punkt zu treffen, der die Liebenden entzweien würde und in jedem einzelnen den Wunsch weckte, wenigstens für diesen Abend angenehmere und aufregendere Gesellschaft zu finden. Man hätte es ihr übelgenommen, hätte nicht das Ergebnis ihre Taktik gerechtfertigt — nach weniger als einer halben Stunde hatten sich die festgelegten Formationen aufgelöst, und jeder gab sein Äußerstes an Charme und Unterhaltsamkeit, um auf diesem Karussell jemanden an sich zu binden, wohl wissend, daß er sonst hinuntergeschleudert würde in das Dunkel, das die Zimmer voller Gelächter und Gesumm zu umlagern schien. Wenn Ginka jemanden verabschiedete, fand sie Sätze, die ihre Gäste wie über eine schiefe Ebene wieder in ihre Ehen und Bündnisse zurückgleiten ließ, nicht ohne den Stachel der Unzufriedenheit, aber fügsam gewillt, neben dem in die Nacht hinauszutrotten, mit dem sie gekommen waren. Die echten Singles versuchte sie zu verkuppeln, auch darin war ihr Instinkt unschlagbar, obwohl sie Isabelle gegenüber zugab, daß es inkonsequent war, den matchmaker zu spielen und danach zu beklagen, daß es weniger und weniger Singles gab. Vor Isabelle machte Ginka nicht halt, allerdings mischten sich ihre Angebote mit der Drohung, sie würde Isabelle die Tür weisen, sollte sie es wagen, eine Langweilerin zu werden wie all die anderen Frauen Anfang dreißig, die plötzlich heirateten, Kinder in die Welt setzten und womöglich aufhörten zu arbeiten.

Andras legte seine Hand auf ihr Knie. — Nimm es nicht so schwer. Am Ende sind es weniger Tote, als sie jetzt glauben. Seine sonst so angenehme, ruhige Stimme klang hohl, er fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar, über das etwas zu breite Gesicht. Sie folgte seinem Blick, der auf ihre Schuhe geheftet war. Es war nicht das World Trade Center, was ihn beunruhigte, es waren die neuen Schuhe, die Anspannung, die von Isabelle ausging, Wellen, die sein Empfangsgerät auffing, ohne sie deuten, ohne sie verarbeiten zu können. Isabelle erinnerte ihn an ein gefangenes Tier, das täuschend reglos blieb, um seinen Ausbruchsversuch vorzubereiten, fühllos für alles andere als die eigene Entscheidung. — Isabelle? Sie nahm die Tasse, wärmte ihre Hände daran. Er wagte nicht, sie nach Ginkas Party zu fragen. Sie war gestern direkt aus dem Büro nach Charlottenburg gefahren, ohne vorher nach Hause zu gehen und sich umzuziehen, in Jeans, den Sneakers, in einem braungelb geringelten T-Shirt. Andras konnte nicht übersehen, daß die meisten Männer ebenso empfänglich waren für Isabelle wie er selbst, den sie von Anfang an wie einen älteren Bruder behandelt hatte, zutraulich, manchmal herablassend neckte sie ihn, quälte ihn, wie man jemanden quälte, dessen man sich sicher war. Zum hundertsten Mal fragte er sich, warum er nicht nach Budapest zurückkehrte, seine paar Sachen zusammenpackte und losfuhr, ohne sich noch einmal umzudrehen, direkt nach Budapest, wo sein Schwager La´szlo´ mit ihm eine Werbe- und Grafikagentur aufmachen wollte. Eine Zeitlang hatte er sich eingeredet, daß er La´szlo´ s Enthusiasmus nicht traute oder daß er den Gedanken, zu seinen Eltern zu ziehen, in das Haus, aus dem er mit vierzehn Jahren zu seinem Onkel und seiner Tante nach Deutschland geschickt worden war, unerträglich fand. Aber er wußte, daß er sich etwas vormachte.

— Gestern um die gleiche Zeit, brach Isabelle endlich ihr Schweigen und verstummte wieder. Andras schüttelte den Kopf. Irgend jemand würde für das bezahlen, was geschehen war, irgend jemand würde den Preis dafür bezahlen, daß sich hier, egal ob in Deutschland oder den USA, die Leute fühlten, als hätte man sie der ihnen zustehenden Wirklichkeit beraubt. Es wird Wirklichkeit in die Welt gebombt werden, dachte er, bis die Leute hier wieder beruhigt sind, beruhigt in der alten Ungerechtigkeit, die ihnen vertraut und angenehm ist. — Irgend jemand wird bezahlen, sagte er schließlich, und bestimmt nicht diejenigen, die verantwortlich sind.