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Hinein in den Nebel.

Es war, als hätte man sie blitzartig an einen anderen Ort katapultiert. Ein dichter Vorhang trennte sie plötzlich von ihren Verfolgern, ein wattiges Etwas, das den Lärm der Hunnen beinah gänzlich schluckte. Nur ganz dumpf und fern waren noch ihre Schreie, das Rasseln der Rüstungen und Klingen und das Getrappel ihrer Füße zu hören. Hagen stürzte als schwarzer Schemen mit dem Prinz auf seinen Schultern hinter Kriemhild und den anderen her, doch jenseits seiner Fersen endete die Welt. Da war nur geisterhaftes Weiß, das Berenikes Hexenhort allmählich verzehrte.

Doch kaum waren sie weitergelaufen - blindlings tiefer in den Nebel, in der verzweifelten Hoffnung, nicht über die Kanten des Hochwegs in den Abgrund zu stürzen -, als ihr Wunschdenken den Gesetzen der Wirklichkeit nachgab: Die Hunnen folgten ihnen unbeirrt, und das, was die Flüchtenden von ihnen trennte, war nichts als Nebel, der weder vor Klingen noch Pfeilspitzen schützte. Kriemhild konnte die Männer nicht sehen, zu dicht war der naßkalte Dunst, doch sie hörte wohl, daß die Krieger immer noch dicht hinter ihnen waren, denn die Geräusche wurden jetzt wieder lauter, als würden die Verfolger sie in den nächsten Augenblicken einholen.

Kriemhild spürte Jorins Hand kühl in ihrer eigenen, und sie konnte ihn als vagen Umriß neben sich erkennen. Von Jodokus aber war kaum mehr etwas zu sehen. Sie hörte seine Schritte, auch sein gehetztes Keuchen, aber er lief verschleiert hinter einer Wand aus Weiß, obwohl er sich kaum drei Schritte links von ihr befand und immer noch Jorins andere Hand hielt. Einmal blickte sie über die Schulter zurück und sah, daß Hagen allmählich langsamer wurde. Er war ganz nahe hinter ihr, und noch sah sie seine verschwommene Form im Dunst. Doch auch er wurde immer stärker vom Nebel überlagert. Der gerüstete Etzel auf seinen Schultern machte ihm mit jedem Schritt mehr und mehr zu schaffen; selbst Hagens Kräfte waren nicht unerschöpflich.

Auch Kriemhild ging der Atem aus. Daß sie überhaupt noch laufen konnte, hatte sie allein dem Umstand zu verdanken, daß sich ihre Beine scheinbar verselbständigt hatten. Doch nicht einmal das vermochte darüber hinwegzutäuschen, daß dies der Anfang vom Ende war.

Die Hunnenmeute wälzte heran, immer näher und näher, so unsichtbar wie mörderisch.

Die Erkenntnis ihrer Niederlage traf Kriemhild im gleichen Moment, da Jorin plötzlich aufschrie. Sie spürte, wie ihre Hand zurückgerissen wurde, als der Kleine stolperte und zu Boden fiel. Hagen bemerkte es zu spät, versuchte noch auszuweichen, und taumelte seinerseits. Mit einem atemlosen Fluch krachte er auf die Knie, während Etzel von seinen Schultern glitt und mit scheppernder Rüstung auf dem Felsboden aufschlug.

Kriemhild überlegte nicht lange. Statt weiterzulaufen, fuhr sie herum, beugte sich über den bewußtlosen Prinzen und riß sein Schwert aus der Scheide. Mit einem Satz sprang sie über ihn hinweg, an Hagen vorbei und baute sich mit dem Rücken zu den Gefährten vor dem Nebel auf.

Kommt doch! dachte sie verbissen und blinzelte in die Richtung der Hunnen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, daß Hagen wieder auf den Beinen war. Statt Etzel aufzuheben, nickte er Kriemhild nur zu, zog seine eigene Klinge und bezog neben ihr Stellung. So beendeten sie ihre Flucht, Seite an Seite, und stellten sich den Feinden zum Kampf.

»Sie kommen!« schrie Jorin.

Es dauerte einen Moment, ehe Kriemhild begriff, daß er nicht die Hunnen meinte.

Es begann zu ihrer Rechten, ein sonderbares Zittern, das den Nebel durchlief wie die Ausläufer einer fernen Flutwelle die Gestade eines Ozeans. Es verursachte kein Geräusch, nicht so wie der Hufschlag, den Kriemhild damals im Hohlweg gehört hatte. Dies hier, was immer es war, bestand nur aus Bewegung, aus Kraft, aus monströser Gewalt. Es raste heran wie ein Wirbelsturm, und einen kurzen Augenblick lang glaubte Kriemhild, jenseits der wirbelnden Schwaden etwas zu sehen, irgend etwas Großes, so ungemein Großes! Dann warf die Nebelwelle sie zurück wie ein Orkanstoß, das Schwert entglitt ihren verkrampften Fingern, und sie selbst wurde zu Boden geschleudert, mehrere Schritte nach hinten. Neben ihr, so nah, daß Kriemhild sie ganz genau sehen konnte, klaffte die scharfe Kante des Hochwegs, und jenseits davon der hungrige Abgrund. Ein Beben erfüllte die Luft, den Nebel, ihren eigenen Kopf, und sie wußte, es war hier, ganz nah, direkt vor ihr!

Und dann verschwand es wieder. Von einem Herzschlag zum nächsten war es fort.

Als Kriemhilds Sinne zurückkehrten und sie sich wieder auf etwas anderes konzentrieren konnte als auf ihre eigene Panik, da war auch das Schreien ihrer Verfolger verklungen.

Totengleiche Stille lag über dem Hochweg. Die Hunnen verfolgten sie nicht länger.

Etwas schoß aus der Nebelwand auf Kriemhild zu. Sie schrie auf, wollte sich herumwerfen - zu spät! Jorins Arme schlossen sich um ihren Oberkörper, als er sich angstvoll an ihren Hals warf.

Der Junge! hämmerte sie sich erleichtert ein. Nur der Junge!

Sie erwiderte seine Umarmung einen Moment lang, dann stand sie auf. Die Hand des Kleinen hielt sie fest.

»Hagen?« fragte sie zaghaft ins Leere. »Jodokus? Seid ihr da?«

»Hier!« knurrte eine Stimme. »Wir müssen weiter, bevor es wiederkommt!«

Und Kriemhild rannte, Jorin dicht an ihrer Seite, den Hochweg entlang nach Westen, zurück zum Rand des Tals. Irgendwann ging es plötzlich bergauf, und da erkannte sie, daß der Felspfad hinter ihnen lag und sie die Berge erreicht hatten. Gehetzt lief sie mit Jorin den Weg hinauf. Zu beiden Seiten mußte jetzt Wald sein, völlig vom Nebel verhüllt.

Erst ganz allmählich, als sie sich der Bergkuppe näherten, wurden die Schwaden dünner, um dann völlig abrupt zu enden. Kriemhild und Jorin liefen noch einige Schritte weiter, dann sanken sie auf dem schmalen Waldweg nieder. Hinter ihnen wurden Schritte laut, und als Kriemhild sich umwandte, sah sie Hagen mit Etzel auf seinen Schultern aus dem Nebel stolpern. Unmittelbar vor ihr brach er zusammen.

Das Tal lag da wie eine riesenhafte Milchschüssel. Die Oberfläche des Nebels war vollkommen glatt, nur in der Mitte schauten zwei Spitzen hervor, die Dächer der beiden Türme. Die roten Fahnen hatten aufgehört zu flattern, und auch der Wetterhahn auf dem Nordturm drehte sich nicht mehr. Es war vollkommen windstill.

»Wo ist Jodokus?« Kriemhild blickte sich alarmiert um. »Hagen, hast du Jodokus gesehen?«

Das eine Auge des Kriegers blickte sie müde an. »Ich dachte, er wäre bei dir und dem Jungen.«

Kriemhild sah in einem Anflug von Panik Jorin an, doch der schüttelte nur traurig den Kopf. »Er hat mich losgelassen, als wir alle hinfielen.«

Mit letzter Kraft taumelte sie auf die Füße und näherte sich erneut dem Nebel.

»Nein!« rief Hagen. »Kriemhild, bleib hier!«

»Ich muß ihn suchen«, widersprach sie verzweifelt.

»Wie willst du ihn da drinnen finden?« Hagen deutete über den ohnmächtigen Etzel hinweg ins Tal. »Was immer die Hunnen geholt hat, es ist immer noch irgendwo dort unten.«

»Aber Jodokus hat -«

»Seht!« schrie plötzlich Jorin und zeigte mit ausgestrecktem Arm über den Nebel.

Kriemhild und Hagen folgten seinem Blick zu den beiden Turmspitzen, die wie die Masten eines gesunkenen Seglers aus dem Dunst hervorstachen. Auf dem Dach des Nordturms regte sich etwas. Eine Luke wurde nach außen geklappt, eine Gestalt schob sich hinaus auf die schwarzen Ziegel.

Das Dach war so steil, daß Jodokus Mühe hatte, nicht den Halt zu verlieren. Dennoch beugte er sich noch einmal über den Rand der Luke und half einer Frau in weiten Gewändern ins Freie. Berenikes Bewegungen waren langsam und müde. Dennoch gelang es ihr, mit Hilfe des Sängers aufs Dach zu klettern. Gemeinsam schoben sie sich der Spitze entgegen, bis ihre Hände die Fahnenstange umfaßten.