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Siegfried war sehr stolz auf seinen richtigen Namen, und es hatte etwa einen Monat gedauert, bis man ihn wieder ›Siggi‹ nennen durfte. Aber wenn man schon mal einen Drachentöter zum Namensvetter hat...

Seit diesem denkwürdigen ersten Mal waren Siggi und Gunhild immer wieder zu diesem Brunnen gegangen, wenn sie im Wald waren. Etwas hatte sie hierhergezogen; sie wussten selbst nicht genau, was es war.

Es gab schönere Stellen im Wald, aber hier wurde man beim Spielen nur selten von Wanderern und Touristen gestört.

Und jetzt, da ihr Sommergast aus dem fernen England gekommen war, war die Versuchung einfach zu groß gewesen.

»Deshalb haben wir dich hierher gebracht«, antwortete Gunhild.

»Und wie hieß noch mal die Frau in der Geschichte?«, fragte Hagen unvermittelt und sah dabei Gunhild an.

»Kriemhild«, sagten Siggi und Gunhild wie aus einem Mund.

»Oder auch Gudrun«, meinte Hagen.

Hagen ging wieder auf den Brunnen zu, als würde er magisch davon angezogen. Er berührte die Steinplatte, dann sah er zu den Bäumen auf.

»Linden gibt es hier auch«, stellte er fest. »Ist das die Stelle, wo ...?«

»Ach, nee. Es gibt viele Siegfriedsquellen und -brunnen hier in der Umgebung«, begann Siggi. »Sieh dir die Inschrift an. Die ist aus dem letzten Jahrhundert, sagt Vati, und der ist Architekt, der versteht was davon. Damals hat man die Nibelungen und alles Germanische mit einem Heiligenschein belegt. Man wollte damit die Nation erhöhen, oder so was«, gab Siggi die Erklärungen seines Vaters wieder. »In diese Zeit fällt auch die große Oper von Richard Wagner. Ich hab' mal versucht, mir Siegfried anzuhören; die Oper, mein' ich. Hat mir aber nicht gefallen.«

Hagen nickte und sah wieder auf den Brunnen.

»Du wirst«, sagte Siggi mit einem Grinsen, »mich doch nicht gleich erschlagen?«

Hagen drehte sich um. Die Atmosphäre schien sich für einen Moment zu verdüstern. Irgendetwas geschah mit Hagen. In Siggis Augen schien er zu wachsen; sein Lächeln wirkte bedrohlich.

»Einmal ist keinmal«, kam es aus Hagens Mund, doch Siggi schien es, als spräche nicht der neue Freund, sondern jemand anderes. Selbst seine Stimme schien viel tiefer zu sein, als Siggi sie in Erinnerung hatte.

Hagen kam auf ihn zu, die Faust erhoben. In Siggi kroch die Angst hoch. Auch er ballte seine Fäuste, mehr aus Hilflosigkeit und Furcht als aus Zorn.

Gunhild war verwirrt; sie empfand nicht das Gleiche wie Siggi, aber sie fühlte, dass sich etwas verändert hatte. Sie sah Hagen, wie er auf Siggi zuging. Er wirkte irgendwie unheimlich, obwohl er lächelte. Siggi sah ängstlich aus, aber auch er machte den Eindruck, als wollte er gleich zuschlagen. Hier passierte etwas, das so nicht geschehen durfte.

Sie musste etwas tun, bevor die beiden sich in die Haare kriegten. Die Jungen waren nur noch zwei Schritte getrennt. Es würde zum Kampf kommen - und irgendwie schien es Gunhild, dass ihn beide nicht wollten, dass sie von einer fremden Macht in diese Auseinandersetzung getrieben wurden -, wenn sie sich nicht gleich etwas einfallen ließ.

»Kommt!«, rief Gunhild aus und packte die beiden an den Händen. Die Fäuste öffneten sich und griffen zu. Fast schien es, als seien Hagen und Siggi aus einem Traum erwacht. »Es heißt, wenn man dreimal um den Brunnen herum tanzt, kann man sich was wünschen.«

Der Bann, der beide Jungen eben fast in eine Keilerei getrieben hatte, schien gebrochen. Beide lachten, als Gunhild mit ihnen unter lautem Gesang um den Brunnen sprang.

»Wer einmal um den Brunnen geht, der darf sich etwas wünschen!«, sangen sie laut. Gunhilds langer Zopf wippte im Takt. Ihre Hände hielten die Jungen fest, die ausgelassen mittanzten, als wäre nichts passiert.

»Wer sich was wünschen will, muss noch mal um den Brunnen hin!«, sangen sie während der zweiten Runde. Dabei wurde ihr Gelächter immer ausgelassener, und alles war wieder so wie oben auf dem Berg, als sie mit einem Affenzahn und wild kreischend durch die Hohlwege geradelt waren, Gunhild vorneweg, Hagen dicht auf und Siggi, der immer ein bisschen ängstlicher war, mit gebührendem Abstand.

Die dritte Runde begann, und Gunhild gab den dritten Vers des alten Aberglaubens vor, und die Jungen fielen begeistert ein. »Wenn dir soll ein Wunsch geschehn, musst dreimal um den Brunnen gehn!«

Ausgelassen tanzten die drei Hand in Hand den Reigen. Noch vier, drei, zwei Schritte, dann war ihr Tanz zu Ende, und dem Aberglauben gemäß wurde ihnen ein Wunsch erfüllt.

Plötzlich, kaum dass sie die letzte Runde beendet hatten, gab es einen Donnerschlag, der den Himmel zerriss und die Erde erschütterte. Der Hall war betäubend. Die drei Kinder warfen sich am Brunnen in Deckung, und alle zitterten am ganzen Körper. Die beiden Jungen und das Mädchen hielten sich eng umschlungen und drückten sich aneinander. Jeder suchte sich selbst und zugleich die anderen zu schützen. Sie hatten sich fürchterlich erschreckt, wagten kaum zu atmen.

Doch kein Regen prasselte auf sie nieder, kein Blitz folgte, und als Gunhild den Kopf hob, konnte sie den Himmel über der Lichtung sehen. Er war blau. Kaum ein Wölkchen trübte die Sicht.

»Was ... was war das?«, fragte Siggi zögernd.

»Vielleicht hat ein Flugzeug die Schallmauer durchbrochen ...«, versuchte Hagen eine Erklärung.

»Vielleicht ...«, entgegnete Gunhild zögernd. »Aber das müsste so nahe dran gewesen sein, dass wir es noch hören müssten.«

Die drei Kinder kauerten immer noch im Schatten des Brunnen und wagten es nicht, sich zu bewegen.

»Ob es etwas mit unserem Tanz zu tun hat. Ein Geist vielleicht -«, wagte Siggi zu sagen, wurde aber von seiner Schwester unterbrochen.

»Es gibt keine Geister und Gespenster, das solltest du wissen!« Doch Gunhilds Stimme klang alles andere als fest und überzeugt.

»Ich glaube, wir sollten lieber nach Hause gehn«, meinte Siggi. »Da können wir dann auch Vati fragen, was das für ein Donner war. Der weiß das bestimmt! Ansonsten wird er bestimmt sauer sein, wenn wir zu spät kommen.«

»Ich will noch einen letzten Blick in den Brunnen werfen, bevor wir gehen«, ließ Hagen sich vernehmen.

»Aber da war doch nichts«, wollte Siggi ihn von seinem Vorhaben abbringen, aber Hagen löste sich aus der Umarmung der Geschwister und stand auf.

»Ich will nur noch mal hineinsehen.«

Er blinzelte über den Brunnenrand und versuchte mit seinem Blick den Grund zu erreichen. Aber die Sonne war jetzt ein Stück weitergezogen, und Schatten hüllte den unteren Teil des Brunnenschachtes ein. Hagen bückte sich, nahm einen Kiesel auf und ließ ihn hineinfallen.

Er musste nicht lange warten, dann hörte er das Platschen von Wasser.

»Sehr tief ist er nicht«, sagte Hagen in nachdenklichen Ton. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass das Wasser weiter unten ist.«

»Hast du jetzt genug gesehen?«, fragte Gunhild. »Es wird Zeit, dass wir aufbrechen.«

»Einen Moment noch«, entgegnete Hagen.

Halb über dem Felssims hängend, spähte er in die Tiefe. Er konnte nun den Wasserspiegel erkennen. Doch knapp oberhalb des Wasserspiegels meinte er, etwas blinken zu sehen. Er rutschte zurück, ging um den Schacht herum und kletterte wieder auf den Brunnenrand.