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»Hier unten stinkt's!«, hallte seine Stimme aus der Tiefe. »Weiter!«

Danach schwieg er, und Siggi und Gunhild kamen mächtig ins Schwitzen, aber sie ließen das Seil weiter gleichmäßig nach.

»Halt!«, brüllte Hagen plötzlich. Gunhild und Siggi stoppten die Winde und erhielten so einen ersten Vorgeschmack darauf, wie es sein würde, wenn sie ihren Freund wieder rausziehen mussten.

»Ich hab's gefunden! Holt mich wieder rauf!«, kam die Anweisung von unten.

Siggi und Gunhild sahen sich an. Die Stimme klang so völlig anders als vorher. Musste der Hall sein.

Mit vereinten Kräften kurbelten sie das Seil Zentimeter für Zentimeter wieder nach oben. Siggi schmerzten die Muskeln im Oberarm. Auch Gunhild, die weit sportlicher war als er, spürte die Anstrengung. Ihr Atem ging stoßweise.

Irgendwann, Siggi glaubte, es seien Stunden vergangen, tauchte Hagens schwarzer Schopf wieder über dem Rand des Brunnens auf. Der Anblick des Freundes mobilisierte bei den beiden die letzten Kräfte. Sie zerrten an der Winde, als ginge es um ihr Leben.

Hagen kam ihnen zur Hilfe. Kaum war er bis zu den Schultern aus dem Schacht wieder aufgetaucht, griff er nach dem Brunnenrand und zog sich hinauf. Triumphierend fuhr seine Hand in die Tasche seiner Shorts.

Die Geschwister standen schnaufend da und sahen zu ihm auf. Siggi und Gunhild hing die Zunge aus dem Hals, die Muskeln in Armen, Beinen und Bauch flatterten ihnen, und der Schweiß floss in Strömen.

»Was ... hast du da unten gefunden?«, keuchte Gunhild.

Hagen sprang vom Brunnenrand, kam federnd auf. Er streckte die zur Faust geballte Hand aus und drehte sie so, dass die Finger nach oben zeigten.

»Seht her!« Hagens Stimme hallte, als käme sie noch aus dem Brunnen. Es lag etwas Stolzes, ja, Abweisendes in diesem Klang und in seiner Haltung, als sei er als ein völlig anderer aus dem Brunnen wieder aufgetaucht; so erschien es zumindest.

Er öffnete die Hand. Gunhild und Siggi, wieder zu Atem gekommen, traten neugierig näher.

Auf der geöffneten Handfläche lag ein goldener Ring!

Sie besahen sich das Beutestück näher. Der Ring sah massiv und schwer aus. Er war golden, fast gelb, als wäre er aus reinem Gold, ohne jede Beimischung von anderen Metallen. Der Ring war von innen und außen glatt, ohne Inschrift oder Markierung.

»Ist der echt?«, fragte Gunhild.

»Weiß nicht...«, antwortete Hagen, der ebenso wie Siggi und seine Schwester den Blick nicht von den Ring nehmen konnte. »Wir werden es herausfinden.«

»Eigentlich habe ich ihn ja zuerst gesehen«, sagte Siggi, und diesmal hatte seine Stimme jenen seltsamen Klang, als würde ein anderer durch ihn sprechen.

Es war, als ginge ein Ruck durch Hagens Körper. Seine Haltung straffte sich, und er richtete sich auf. Er tat, als hätte Siggi gerade etwas gesagt, das ungehörig, ja, feindselig war.

Gunhild war es unheimlich zumute, als Hagen auf der einen und Siggi auf der anderen Seite sich so gegenüberstanden. Einen Moment sah es wieder so aus, als es gleich zu einer Schlägerei kommen.

»Kommt«, sagte sie. »Kein Grund, sich zu streiten.«

Siggi wich einen Schritt zurück. Hagen wollte auf ihn zutreten, überlegte es sich dann aber doch anders.

»Wahrscheinlich ist er sowieso nichts wert.« Mit diesen Worten schloss er die Faust und ließ den Ring wieder in der Tasche seiner Shorts verschwinden. Dann lachte er - ein Lachen, das befreiend wirkte, und in das Siggi und Gunhild einfielen.

Hagen nahm sein Taschentuch und wischte sich die Hände ab und stopfte es dann zu dem Ring in die Hosentasche.

Von einen Augenblick zum anderen hatte sich die Stimmung geändert. Alle wirkten gelöst und fröhlich, und es war, als wäre es nie anders gewesen ...

»Wir müssen los«, sagte Siggi. »Wir sind ohnehin schon zu spät dran.«

»Aber nicht viel, kleiner Bruder«, lachte Gunhild. »Auf fünf Minuten kommt's jetzt nicht mehr an.«

»Sind eure Eltern so streng? Das glaube ich nicht«, sagte Hagen.

»Sind sie auch nicht«, entgegnete Gunhild. »Aber wir haben eine Abmachung, und an Abmachungen muss man sich halten. Doch auf die Minute genau nehmen sie's auch nicht. So schnell machen sie sich keine Sorgen.«

»Was ist das für eine Abmachung?«, erkundigte sich Hagen.

»Na ja, sie lassen uns machen, was wir wollen, wenn wir ungefähr zum angegebenen Zeitpunkt zu Hause sind. So haben wir beide viele Freiheiten, die unsere Klassenkameraden nicht haben. Kommen wir zu oft zu spät, gibt es ... Einschränkungen«, erklärte Siggi.

»Aha«, entfuhr es Hagen. »Dann sollten wir uns beeilen, damit ihr keine Probleme kriegt.«

»Richtig«, stimmte Gunhild zu. »Noch anderthalb Jahre, und ich darf in die Disco. Da ist wichtig, solche Freiheiten zu haben.«

Seit Hagen den Ring wieder in die Tasche hatte verschwinden lassen, war alles wieder wie vorher. Nichts deutete darauf hin, dass die Kinder kurz davor gewesen waren, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Auch Siggi, Gunhild und Hagen verschwendeten keinen Gedanken daran, und die Erinnerung an die bedrohlichen Sekunden schwand schneller als ein Berg Eiscreme auf einem Geburtstag.

»Gehst du noch nicht zum Tanzen?«, fragte Hagen.

»Doch schon, aber nur ins ›Zentrum‹ «, womit Gunhild das örtliche Jugendzentrum meinte. »Da gibt es alle vier Wochen einen Tanzabend. Die Disco hier in Odenhausen ist nur was für Grufties ab dreißig, und um in eine richtige Disco zu kommen, muss ich bis in die Kreisstadt.«

»Und du solltest deinen Mofa-Führerschein im Auge haben«, sagte Siggi. »Dann kannst du dahin fahren.«

»Richtig«, bestätigte Gunhild. »Das alles gehört zu der Abmachung. Zeigen wir Verantwortung, gibt es Freiheiten.«

»Tolle Eltern habt ihr«, entfuhr es Hagen, und es klang ein bisschen eifersüchtig.

»Wie man's nimmt«, sagte Gunhild, säuerlich lächelnd. »Verantwortung ist anstrengend. Manchmal wünschte ich mir, wir würden bestraft wie andere Kinder auch. Das wäre einfacher, aber Vater lässt da nicht mit sich handeln. Und was ist mit deinem Vater?«

Hagens Gesicht verdüsterte sich. »Mein Vater ist nur selten da«, sagte er. »Ich sehe ihn nicht sehr oft. Und meine Tante ist ... okay.« Er hatte ihnen schon gestern erzählt, dass er bei einer Tante lebte, seit seine Mutter gestorben war; seine Mutter war eine Deutsche gewesen, hier aus der Gegend von Odenhausen - was der Grund war, weshalb er so fantastisch Deutsch konnte.

Gunhild, die verstehen konnte, was in ihm vorging, sah ihn mitleidig an.

»Jetzt kommt«, drängte Siggi. »Wir können auch auf dem Weg zu den Rädern noch quatschen!«

Das war das Kommando. Sie gingen los. Die Stimmung war unbeschwert, als sie den Brunnen verließen, und keiner schien noch an das Erlebte zu denken. Sie scherzten und lachten, als sie den farnbedeckten Hang wieder hinaufstiegen, den sie heruntergeklettert waren.

Die Luft hing wie Blei über dem Land. Ein fernes Grollen kündigte das Gewitter an, das an diesem Abend die Atmosphäre von der drückenden Schwüle reinigen würde, welche sich nun auch verstärkt im Wald bemerkbar machte.

»Das wird noch dauern, bis das Unwetter hier ist. Bis dahin hocken wir längst in der warmen Stube, wie Opa Hans immer sagt«, meinte Gunhild.

»Trotzdem sollten wir uns was beeilen«, meinte Siggi.

»Keine Panik«, sagte Gunhild. »Das Gewitter ist noch weit.«

Sie erreichten schließlich den Aufstieg zum Rastplatz, wo sie ihre Räder zurückgelassen hatten. Die drei wussten, das letzte Stück würde anstrengend werden, aber nach einer kurzen Verschnaufpause und dem letzten Schluck aus der Feldflasche ging es mit frischen Kräften den Hang hoch.