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Das Donnergrollen rückte langsam näher. Die Sonne war von einer fahlen Helle und schien alle Kraft verloren zu haben, während die Luft aufgeladen zu sein schien, dass man fast schon ein Knistern zu spüren glaubte.

»Das Gewitter kommt aber schneller, als du glaubst«, maulte Siggi.

»Es wird uns schon nicht einholen«, versuchte Gunhild ihn zu beruhigen. »Sind wir erst mal bei den Rädern, ist der Rest ein Kinderspiel.«

»Aber wie ist das mit der Abfahrt?«, fragte Hagen vorsichtig an.

»Die Abfahrt ist nicht mehr steil«, antwortete Siggi, froh, dass Hagen es vermied, allzu offen auf seine Schwäche hinzuweisen. »Und dann sind wir bald auf der Straße.«

»Richtig«, stellte Gunhild fest. »Und darum kommen wir noch vor Blitz, Donner und Regen nach Hause. Also, bitte keine Hektik wegen der paar Wolken.«

Die drei kletterten den Hang hinauf. In der Windstille, die dem Gewitter vorausging, machte sich die Schwüle nur noch mehr bemerkbar. Schon auf der Hälfte der Strecke klebten die T-Shirts ihnen am Leib.

Der Weg nach oben kam ihnen ungleich länger vor als der Abstieg. Einmal hielten sie sogar kurz an, um Atem zu schöpfen. Die drückende Luft machte ihnen ernstlich zu schaffen, aber die Aussicht, die sie von diesem Punkt aus hatten, entschädigte sie für die Anstrengung. Durch eine Lücke in den Bäumen sah man in der Ferne, tief drunten zu ihren Füßen den Rhein.

Sie hatten den Fluss bereits auf dem Abstieg erspäht, doch da hatte der Anblick ihnen nicht viel gesagt. Jetzt aber zog das Bild sie wie magisch an.

»Er sieht aus wie glitzerndes Band ...«, entfuhr es Gunhild.

»... eher wie eine graue Schlange, die sich durch die Landschaft ringelt...«, meinte Hagen.

»... für mich ist es ein Schwert, eine stählerne Schwertklinge«, gab Siggi zu verstehen.

Über dem Rhein, von Westen her, ballten sich die Wolken. Dunst lag über dem Fluss, zog sich durch die Niederungen ins Land und wurde zu Nebel. Wie graue Schleier krochen die Schwaden die Hänge hoch. Die feuchte, heiße Luft konnte man fast mit dem Messer schneiden. Der Himmel im Westen verdüsterte sich zusehends, und selbst Gunhild, die Optimistin, räumte ein, dass es ein knappes Rennen zwischen dem Unwetter und ihnen geben würde.

Das Grollen des Donners wurde immer lauter, und ein erster Blitz zuckte auf. Der Anblick der gezackten Lichtbahn, die quer über den Himmel raste, hatte etwas Erschreckendes und Faszinierendes zugleich.

In Siggis Ohren klang das Donnergrollen wie ein Hohn über ihre Verspätung und ihre Nachlässigkeit. Der Vater hatte doch gesagt, am Abend würde es gewittern. Gegen dieses Versäumnis standen die Abenteuer des Tages und das Gefühl, einen neuen Freund gewonnen zu haben. Siggi sagte sich, gewiss würde er seinen Vater davon überzeugen können, dass dies wichtiger war als ein Versprechen, vor dem Gewitter zu Hause zu sein.

Schnaufend wie drei alte Dampflokomotiven kletterten sie auch das letzte Stück des Hangs hinauf. Diesmal war ausnahmsweise Siggi der Erste, als sie den Rastplatz erreichten. Die anderen beiden folgten ihm auf dem Fuß - und blieben ebenfalls wie erstarrt stehen.

Ihre Fahrräder waren völlig demoliert. Die Reifen waren zerstochen, die Bleche verbeult, und in den Felgen waren Achten drin. Alles sah aus, als hätten Vandalen mit Äxten auf die Räder eingeschlagen: Die Rahmen waren total verbogen, der Lack war abgesplittert und alles kaputt. Die Picknickkörbe und ihr Inhalt waren wild auf dem Rastplatz verstreut.

»Scheiße!«, sagte Siggi.

2

Die Rabenhöhle

»Was waren das für Chaoten?«, tobte Gunhild. »Denen wünsche ich die Krätze an den Hals!«

Siggi, der käsebleich geworden war, als er auf die Trümmer ihrer Räder starrte, sagte zunächst gar nichts mehr.

»Wir werden laufen müssen«, stellte Hagen nach einer kleinen Weile fest. »Also, auf geht's ...«

»Ja, wir müssen«, sagte auch Siggi seufzend, »wenn wir noch eine möglichst große Strecke trocken schaffen wollen.«

»Wo entlang?«, fragte Hagen.

Siggi dachte kurz nach. »Was ist, Gunhild? Versuchen wir, nach Hause zu kommen, oder laufen wir zum Waldgasthof und rufen von da aus Vati an?«

Das blonde Mädchen überlegte, sah auf das herannahende Gewitter, dessen dunkle Wolkenfront durch die Lücken in den Baumkronen sichtbar war, und blickte sich um.

»Den Weg zum Gasthof kenn' ich nicht so gut, aber es ist auf jeden Fall kürzer als bis nach Hause oder ins Dorf. Gehen wir zum Gasthof, das ist das Beste, und wir haben Chancen, nicht allzu nass zu werden«, entschied sie schließlich. »Das ist auch besser so. Da wir die Typen, die das ...«, die Worte fehlten ihr, und so deutete sie nur auf die traurigen Reste ihrer Fahrräder. »Da uns diese Kerle nicht entgegengekommen sind, müssen die sich zwischen hier und dem Dorf rumtreiben. Ich glaube, es ist besser, denen aus dem Weg zu gehen. Wer Fahrräder so sinnlos zertrümmert, der schlägt auch kleine Kinder.«

»Gut«, meinte Siggi und sah auf die Schrotthaufen zu seinen Füßen. »Nehmen wir die Räder mit?«

Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu geben, was ihm auch fast gelang. Gleichzeitig versuchte sich aber aus den Augenwinkeln umzusehen, ob er irgendetwas Ungewöhnliches entdecken konnte. Angst überkam ihn. Wenn sich diese Kerle hier noch rumtrieben ...?

»Wir lassen sie hier«, bestimmte Gunhild. »Wir können morgen mit Vati hierher fahren, um die Dinger zu holen - oder besser, was davon noch übrig ist. Die Reste mitzuschleppen, hält uns bloß auf.«

»Also, auf geht's. Welche Richtung?«, fragte Hagen, der sich ein wenig unsicher umsah. Er fühlte sich beobachtet, konnte aber nicht sagen, von wo. Auch ihn beschlich Furcht, und er würde heilfroh sein, wenn sie hier wegkämen.

»Auf jeden Fall wieder runter und am Brunnen vorbei«, meinte Siggi. »Dann weiß ich es nicht so genau, aber es muss Hinweisschilder geben.«

»Worauf warten wir noch?«, fragte Gunhild, die nach außen hin unbeeindruckt wirkte; aber auch ihr war es unheimlich zumute. Sie verbarg es nur am besten.

So kletterten sie den Hang wieder hinunter. Die Gespräche waren verstummt. Jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach, und alle drei versuchten auch, so unauffällig wie möglich die Gegend im Auge zu behalten. Aber noch war Hagen der Einzige, der fühlte, dass sie beobachtet wurden. Jemand - oder etwas - schien auf sie zu lauern, schien sie im Auge zu behalten, dass sie nicht mehr entkommen konnten.

Hagen fröstelte, trotz der Gewitterschwüle. Ungewollt lief er schneller.

Sie alle waren so bemüht, die eigene Angst vor den anderen zu verbergen, dass sie die Furcht der Gefährten gar nicht bemerkten. So kamen alle drei schweigend auf dem Weg unten an. Die Unbeschwertheit, die anfangs auf ihrem Ausflug geherrscht hatte, war verflogen.

Das Gewitter rückte immer näher. Die Luft war schwer wie Blei, und der Nebel begann sich zu verdichten. Jedes der drei Kinder fürchtete die Minute, da die Nebelschwaden sich zu einer einzigen grauen Masse zusammenziehen und ihnen die Sicht nehmen könnten. In diesem grauen Wattedunst konnte sich alles verbergen, und das war es, was ihnen Angst machte: das Unbekannte, das Nichtgreifbare, das Unerklärliche.

Unbewusst beschleunigten sie ihre Schritte. Die dunklen Wolken sorgten dafür, dass nicht nur der Nebel aufzog, sondern auch die Sonne verborgen war, sodass es nun weit vor der Zeit zu dämmern begann. Zusätzlich wurde das Licht noch durch die mächtigen Baumkronen gedämpft, die den Weg überdachten. Das Zwielicht wuchs und damit auch die Angst.

Sie kamen an die Abzweigung, die zum Brunnen führte, aber gingen daran vorbei, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden. Sie schwiegen immer noch, weil jeder viel zu sehr damit beschäftigt war, die eigene aufkeimende Angst zu bekämpfen, zu verhindern, dass der Samen der Furcht aufging.