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Der Weg wurde immer schmaler. Das Gebüsch des Unterholzes rückte immer näher an den Wegrand. Es war, als würden sie durch einen enger werdenden Schlauch gehen. Immer öfter sahen sie im fahlen Licht der Dämmerung Brombeerbüsche an den Seiten, die einen undurchdringlichen stacheligen Verhau bildeten.

Siggi hatte das Gefühl, in eine Falle zu laufen. Er packte seinen Knüppel fester, nicht dass es viel geholfen hätte.

Ihre Gespräche hatten die drei inzwischen völlig eingestellt, und sie machten einfach nur erschöpft einen Schritt nach dem anderen. Es mussten noch mehr als drei Kilometer sein, bis sie ihr Ziel erreichen würden.

Die Furcht griff wieder mit klammen Fingern nach ihren Herzen. Sie kam mit dem Nebel, der nun auch diesen Hohlweg mit seinem grauen Tuch zudeckte. Er kroch ihnen vom Tal her entgegen, verdichtete sich, bis sie keine zwanzig Meter weit sehen konnten. Zur Rechten und Linken gab es ohnehin nur das dichte Unterholz des Waldes, die Dornenranken und die hohen Bäume. Vor ihnen und hinter ihnen war nur noch eine graue, wallende Masse.

Ihre Schritte auf dem halb überwucherten Weg, der Donner und ihr Atem waren die einzigen Geräusche, die sie hörten. Alles war irgendwie unwirklich. Die Welt schien sich zu verändern, die Landschaft schien wieder so zu sein wie zu Zeiten Siegfrieds, des Drachentöters, Hagens und Kriemhilds. Der Wald bekam etwas Sagenhaftes, aber nicht die Leichtigkeit und Lebensfreude eines Feenwaldes; vielmehr wirkte er bedrohlich. Der Nebel war wie der Atem des Lindwurms, und die Bäume sahen im Dunst aus wie Riesen, die mit ihren Ästen, langen Armen gleich, nach ihnen greifen wollten. Das Donnergrollen in der Ferne klang wie das Schnauben des Drachen, und die Blitze, die manchmal noch als fahles Licht durch die grauen Schleier drangen, wirkten wie die Flammenstöße aus seinem feurigen Schlund.

Nur Siggi fühlte sich nicht wie ein Drachentöter. Er wünschte sich nur, diese Wanderung würde ein Ende finden. Er betete, die Lichter des ›Lindenhofs‹ vor sich zu sehen, in eine warme Stube zu kommen und die Eltern anrufen zu können, die ihn dann abholen und diesen Albtraum beenden würden.

Hagens rechte Hand steckte in seiner Tasche. Sie hielt krampfhaft den Ring umklammert, den er gefunden hatte. Er schien ihm Kraft und Selbstbewusstsein zu geben. Mit ihm kämpfte Hagen den stummen Kampf gegen die Furcht, die wieder aufgekommen war. Wie Siggi umklammerte auch er seinen Knüppel, wenngleich mit der Linken, doch alles half nichts. Die Angst kroch seine Glieder hoch. Dieser Nebel dämpfte alles; und mehrmals ertappte er sich dabei, wie er zusammenzuckte, weil er meinte, vor ihnen wäre jemand, aber dann entpuppte sich diese Erscheinung, wenn sie sich langsam aus dem Nebel schälte, als toter Baum oder ein merkwürdig gewachsenes Gebüsch.

Dennoch wurde Hagen das Gefühl immer noch nicht los, beobachtet zu werden. Tausend Augen schienen sich in seinen Rücken zu bohren. Aber wenn er sich umwandte, sah er nichts als den Nebel oder das Unterholz an ihrer Seite.

Auch Gunhild war es unheimlich, und wie die Jungen umklammerte sie mit festen Griff ihren Knüppel. Sicher, der Weg führte zum Waldgasthof, aber all das wirkte bedrohlich auf sie. Und die Bedrohung war nicht greifbar. Ein Stock war da wenig nütze. Der Nebel und das Zwielicht spielten auch ihr manchen Streich, und ein paarmal war sie kurz davor, ihren Stock zu erheben; aber da war nichts, auf das sie hätte einschlagen können.

Glücklicherweise hatten sie sich nicht verlaufen oder die ausgebauten Wege verlassen, denn sonst würde alles noch viel schlimmer sein. Bei diesem Wetter konnten sie an jeder menschlichen Behausung um ein paar Meter vorbeimarschieren oder die ganze Nacht im Kreis laufen.

Alle drei hatten Hunger und Durst, aber ihre Angst überlagerte das Verlangen nach Essen und Trinken. Wichtiger war für sie, dass dieser Weg endlich ein Ende fand.

Sie hatten jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren und folgten einfach nur der Richtung, die ihnen der Weg wies. Noch immer ging es bergab, und keiner von den dreien wusste, wie viel von der Strecke sie schon hinter sich und was noch vor sich hatten. Siggi sah auf seine Uhr. Sie war stehen geblieben. Die Batterie war wohl alle.

»Wie spät ist es eigentlich?«, fragte er, und als er seine eigene Stimme hörte, fühlte er sich sofort besser, denn das lenkte ihn von seiner Furcht ab.

»Ich weiß nicht«, antwortete Hagen. »Ich trage keine Uhr. Wo ich herkomme, da gibt's überall welche.« Es klang fast wie ein Vorwurf, als wollte er sagen: Da bin ich nun aus einem zivilisierten Land hergekommen, um bei Nacht und Nebel durch einen Wald zu laufen.

Gunhild sah auf ihre Armbanduhr. »Meine ist stehen geblieben«, sagte sie. »Was ist mit deiner, Siggi?«

»Meine steht auch«, entgegnete Siggi. »Ist deine Batterie auch alle?«

»Muss wohl«, Gunhilds Stimme war voller Zweifel.

»Du hast doch erst gestern 'ne neue Batterie bekommen. Wir waren doch auf dem Weg zum Bahnhof im Laden und haben das Ding auswechseln lassen«, meinte Siggi und blickte sich verstohlen um.

»Vielleicht hat die Tante im Laden die neue Batterie in den Sondermüll geworfen und mir die alte wieder eingebaut. Das ist jedenfalls die einzige Erklärung, die mir einfällt.«

Das Gespräch schlief wieder ein, und die drei marschierten weiter durch die Dämmerung. Immer noch rumorte das Gewitter, aber es schien nicht wesentlich näher zu rücken. Es hing wie eine entfernte Drohung über ihnen, die jederzeit herniederkommen konnte.

Plötzlich standen sie wieder an einer Kreuzung. Ein Weg, der ebenso überwuchert war wie der ihre, brach sich seine Schneise aus dem wuchernden Unterholz, wie eine Bresche in einer Mauer. Auf der anderen Seite verschwand er wieder im Dunkel. Ein umgestürzter Wegweiser lag mitten auf der Kreuzung. Die Bruchstelle war alt und bereits von Moos überwuchert, ein Zeichen dafür, dass hier lange kein Waldarbeiter mehr vorbeigekommen war, aus welchen Gründen auch immer.

Gunhild beugte sich über den Pfahl, und las ›Lindenhof 3 Kilometer, Odenhausen 10 Kilometer‹ und ›Rhein 15 Kilometer‹.

Dann untersuchte sie die Bruchstelle und sah sich den Pfahlstumpf an, der wie ein anklagender Finger in den Nebel ragte. Dann erhob sie sich und stellte sich vor, wie der Wegweiser einst gestanden hatte.

»Wir müssen hier nach links«, verkündete sie und schob nach: »Wenn ich mich nicht irre.«

»Hoffentlich irrst du dich nicht«, entfuhr es Siggi.

»Ja, hoffentlich«, gab Gunhild zurück.

»Wir werden es nie herausfinden, wenn wir rumstehen und reden«, gab Hagen sich forsch. »Bisher hat sie Recht behalten. Warum also nicht auch jetzt? Lasst uns gehen!«

Hagen ging voran. Er war stolz auf sich. Jetzt war es ihm gelungen, seine Angst vor den anderen zu verbergen. Dabei konnte er fast körperlich die Blicke dessen oder derer spüren, die ihnen auf den Fersen waren, aber er verheimlichte seine Gefühle. Keiner sollte sagen, er sei ein Feigling. Er würde es allen schon zeigen. Seine Hand hielt bei diesen Gedanken den Ring fest umklammert...

Siggi und Gunhild folgten Hagen, holten ihn ein und gingen zu zweit hinter ihm. Mehr Platz war auf dem Weg nicht. Nebeneinander gehend, streiften sie mit den Armen bereits das Unterholz. Groß und bedrohlich ragten die Stämme der Bäume aus dem Gebüsch hervor, Riesen gleich, die über den Weg wachten.

Gunhild fühlte sich alles andere als wohl. Sie hatte entschieden. Hatte sie sich geirrt, würden sie noch lange durch den Wald stapfen, und dabei wollte sie nichts als hier raus. Sie würde sich sogar das Fußballspiel im Fernsehen anschauen, wenn sie bloß so schnell wie möglich aus diesem verfluchten Wald herauskämen.

Der Nebel umgab sie wie eine bewegliche Wand, die sich vor ihnen zurückzog und hinter ihnen hergeschoben wurde. Die Mauer war weich und nachgiebig, aber zugleich undurchdringlich. Die Blitze wurden zu fahlen Lichtreflexen am Himmel, die Dämmerung schritt voran, und das Donnern drang nur noch gedämpft zu ihnen durch. Siggi glaubte in eine Welt aus Watte zu gehen.