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«Sein Zittern ist viel besser geworden», fügte Enid für Alfred unhörbar hinzu. «Die einzige Nebenwirkung könnte sein, dass er Halluzinationen bekommt.»

«Das ist eine ganz ordentliche Nebenwirkung», sagte Chip.

«Doktor Hedgpeth sagt, was er hat, ist ein ganz leichter Fall und mit Medikamenten fast völlig in den Griff zu kriegen.»

Alfred behielt die Gepäckband-Höhle im Auge, während bleiche Reisende einen Platz am Karussell zu ergattern versuchten. Ein Gewirr aus Schrittmustern war auf dem Linoleum entstanden, grau von den Schadstoffen, die der Regen heruntergespült hatte. Das Licht hatte die Farbe von Reiseübelkeit. «New York City!», sagte Alfred.

Enid schaute missbilligend auf Chips Hose. «Die ist doch nicht etwa aus Leder, oder?»

«Doch.»

«Und wie wäschst du die?»

«Sie ist aus Leder. Sie ist wie eine zweite Haut.»

«Spätestens um vier müssen wir am Pier sein», sagte Enid.

Das Karussell hustete und spuckte ein paar Koffer aus.

«Chip, hilf mir mal», sagte sein Vater.

Kurz darauf wankte Chip mit allen vier Reisetaschen seiner Eltern hinaus in den vom Wind zerzausten Regen. Alfred schlurfte vorneweg, mit den ruckartigen Bewegungen eines Mannes, der, einmal in Schwung gekommen, wusste, dass es nicht gut wäre, wenn er anhalten und von Neuem losgehen müsste. Enid hinkte hinterher, auf den Schmerz in ihrer Hüfte bedacht. Sie hatte zugenommen, war vielleicht auch ein wenig geschrumpft, seit Chip sie das letzte Mal gesehen hatte. Hübsch war sie immer gewesen, doch für Chip war sie so sehr eine Persönlichkeit und so wenig irgendetwas anderes, dass er, selbst wenn er ihr genau ins Gesicht starrte, keine Ahnung hatte, wie sie wirklich aussah.

«Was ist das — Schmiedeeisen?», fragte Alfred, während die Taxischlange vorwärts kroch.

«Ja», sagte Chip und griff sich ans Ohr.

«Sieht aus wie ein alter 5O-mm-Niet.»

«Ja.»

«Was macht man damit — falzen? Hämmern?»

«Er ist gehämmert», sagte Chip.

Alfred zuckte zusammen und sog, leise pfeifend, Luft ein.

«Wir machen eine ‹Luxus-Herbstfarben-Kreuzfahrt›», sagte Enid, als sie in einem Taxi saßen und durch Queens rasten. «Erst geht es rauf nach Quebec, und dann können wir uns den ganzen Weg zurück am herrlichen Farbenspiel des Laubs erfreuen. Dad hat unsere letzte Kreuzfahrt so genossen. Nicht wahr, Al? Fandst du die Kreuzfahrt nicht herrlich?»

Die Backsteinpalisaden am Ufer des East River bezogen vom Regen wütende Prügel. Chip hätte sich einen sonnigen Tag gewünscht, eine klare Sicht auf Sehenswürdigkeiten und blaues Wasser, Ausblicke, die nichts zu verbergen hatten. An diesem Morgen waren die einzigen Farben, die man durch die Scheiben sah, die verschmierten Rottöne der Bremslichter.

«Dies ist eine der großen Städte der Welt», sagte Alfred erregt.

«Wie geht's dir denn so, Dad», raffte Chip sich auf zu fragen.

«Bisschen besser, und ich wär im Himmel, bisschen schlechter, und ich wär in der Hölle.»

«Wir freuen uns über deine neue Stelle», sagte Enid.

«Eine der großen Zeitungen des Landes», sagte Alfred. «Das Wall Street Journal.»

«Aber findet ihr nicht auch, dass es hier nach Fisch riecht?»

«Wir sind ziemlich nah am Meer», sagte Chip.

«Nein, das bist du.» Enid lehnte sich hinüber und vergrub ihr Gesicht in Chips Lederärmel. «Deine Jacke riecht enorm nach Fisch.»

Er machte sich von ihr los. «Mutter. Bitte.»

Chips Problem war, dass er sein Selbstvertrauen verloren hatte. Vorbei die Zeiten, da er sich ein später les bourgeois erlauben konnte. Abgesehen von seiner Wohnung in Manhattan und seiner hübschen Freundin Julia Vrais hatte er so gut wie nichts mehr vorzuweisen, was ihn davon zu überzeugen vermocht hätte, dass er ein funktionierender Erwachsener männlichen Geschlechts war — keine Erfolge wie sein Bruder Gary, der Bänker und Vater von drei Kindern war, oder wie seine Schwester Denise, die mit zweiunddreißig Jahren ein blendend gehendes neues Spitzenrestaurant in Philadelphia führte. Chip wollte eigentlich sein Drehbuch längst verkauft haben, aber der Entwurf war erst am Dienstag nach Mitternacht fertig geworden, und danach hatte er drei Vierzehnstundenschichten bei Bragg Knuter & Speigh einlegen müssen, um das Geld für seine Augustmiete aufzubringen und den Eigentümer des Apartments, in dem er wohnte, im Hinblick auf seine September- und Oktobermiete in Sicherheit zu wiegen, und dann musste er für ein Mittagessen einkaufen und seine Wohnung sauber machen und schließlich, irgendwann vor Anbruch des heutigen Tages, eine lang aufgesparte Xanax schlucken. Fast eine Woche war vergangen, ohne dass er Julia gesehen oder mit ihr gesprochen hatte. Auf die vielen fahrigen Nachrichten, die er in den letzten achtundvierzig Stunden auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, auf seine Bitten, am Samstag um zwölf zum Mittagessen mit ihm, seinen Eltern und Denise in seine Wohnung zu kommen und seinen Eltern gegenüber nach Möglichkeit nicht zu erwähnen, dass sie mit jemand anderem verheiratet war, hatte Julia mit totalem Telefon- und E-Mail-Schweigen geantwortet, woraus vermutlich auch ein selbstbewussterer Mann als Chip beunruhigende Schlüsse gezogen hätte.

Es regnete so stark in Manhattan, dass Wasser an den Fassaden herunterströmte und über den Abflussrosten der Rinnsteine aufschäumte. Vor seinem Wohnhaus an der East Ninth Street nahm Chip Geld von Enid entgegen, reichte es durchs Schiebefenster nach vorn, und obwohl der Turban tragende Fahrer sich bedankte, merkte er sofort, dass das Trinkgeld zu klein ausgefallen war. Er zog zwei Dollarscheine aus seinem Portemonnaie und ließ sie dicht neben der Schulter des Taxifahrers hin und her baumeln.

«Das genügt, das genügt», quiekte Enid und griff nach Chips Handgelenk. «Er hat doch schon Danke gesagt.»

Aber das Geld war weg. Alfred versuchte die Tür zu öffnen, indem er an der Fensterkurbel zog. «Der hier ist es, Dad», sagte Chip, beugte sich vor und ließ die Tür aufschnappen.

«Wie viel war das?», fragte Enid, als sie unter der Markise vor Chips Haus auf dem Gehweg standen und der Fahrer das Gepäck aus dem Kofferraum wuchtete.

«Ungefähr fünfzehn Prozent», sagte Chip.

«Wohl eher zwanzig, denk ich.»

«Klar, los doch, streiten wir uns darüber.»

«Zwanzig Prozent ist zu viel, Chip», meldete sich Alfred mit dröhnender Stimme zu Wort. «Das ist nicht angemessen.»

«Schönen Tag auch noch», wünschte der Taxifahrer ohne erkennbare Ironie.

«Ein Trinkgeld gibt man für Service und Benehmen», sagte Enid. «Wenn Service und Benehmen besonders gut sind, würde ich vielleicht fünfzehn Prozent geben. Aber wenn man automatisch ~»

«Ich habe mein Leben lang Depressionen gehabt», sagte Alfred oder schien es zu sagen.

«Wie bitte?», sagte Chip.

«Die Jahre der Depression haben mich verändert. Sie haben den Wert eines Dollars verändert.»

«Sprechen wir jetzt von einer Wirtschaftsdepression oder was?»

«Und wenn der Service wirklich mal besonders gut oder schlecht ist», fuhr Enid fort, «hat man keine Möglichkeit mehr, es durch Geld zum Ausdruck zu bringen.»

«Ein Dollar ist immer noch eine Menge Geld», sagte Alfred.

«Fünfzehn Prozent, wenn der Service exzeptionell ist, wirklich exzeptionell.»

«Ich frage mich, warum wir ausgerechnet darüber reden müssen», sagte Chip zu seiner Mutter. «Warum darüber und nicht über irgendwas anderes.»

«Wir würden beide wahnsinnig gern sehen», erwiderte Enid, «wo du arbeitest.»

Chips Portier Zoroaster eilte herbei, um den Lamberts mit dem Gepäck zu helfen und sie in den störrischen Aufzug des Gebäudes zu verfrachten. Enid sagte: «Neulich in der Bank habe ich deinen alten Freund Dean Driblett getroffen. Jedes Mal wenn ich ihn treffe, erkundigt er sich nach dir. Er war ganz beeindruckt von deinem neuen Posten bei der Zeitung.»