»Das ist doch fast schon normal«, mischte sich Stichus ein, der endlich auch einmal zu Wort kommen wollte. »Mindestens die Hälfte aller römischen Mädchen heiratet Männer, die ihre Väter sein könnten. Ekelhaft!«
»So ein Unsinn!« Nikopolis richtete sich auf und funkelte Stichus böse an. »Laß dir sagen, du Schlappschwanz, daß ältere Männer für junge Mädchen sehr attraktiv sind! Ältere Männer sind wenigstens mitfühlend und vernünftig. Meine schlimmsten Liebhaber waren alle unter fünfundzwanzig. Tun so, als ob sie alles wüßten, dabei wissen sie gar nichts. Pfui! Als ob man von einem Bullen gestoßen würde! Vorbei, bevor es angefangen hat.«
Stichus, der dreiundzwanzig Jahre alt war, konnte das nicht auf sich sitzen lassen. »Du glaubst wohl, du weißt alles?« höhnte er.
Nikopolis sah ihn kalt an. »Ich weiß jedenfalls mehr als du, Schlappschwanz!«
»Jetzt kommt schon, heute wollen wir uns vertragen«, rief Clitumna. »Wo doch unser lieber Lucius Cornelius zurückgekommen ist.«
Prompt warf der so angesprochene Heimkehrer seine Stiefmutter auf den Rücken und kitzelte sie am Bauch, so daß sie schrill aufschrie und mit den Beinen in der Luft herumstrampelte. Daraufhin begann Nikopolis, Sulla zu kitzeln, und auf dem Sofa entstand ein wüstes Durcheinander.
Das war zuviel für Stichus. Er packte seine Schriftrolle und stolzierte aus dem Raum. Gegen Sulla war kein Kraut gewachsen. Tante Clitumna mußte den Verstand verloren haben! Nicht einmal während Sullas Abwesenheit hatte sie sich überreden lassen, Sulla aus dem Haus zu werfen. Sie hatte immer nur geheult, wie schade es sei, daß ihre beiden lieben Jungen sich nicht vertragen würden.
Daß er nichts gegessen hatte, war Stichus egal. In seinem Arbeitszimmer bewahrte er eine stattliche Sammlung von Eßbarem auf: ein Glas mit in Sirup eingelegten Feigen, ein kleines Tablett, das der Koch ständig mit süßem Honiggebäck versorgen mußte, eine Schachtel mit saftigen Rosinen, ferner Honigkuchen und Honigwein. Er konnte es ohne Lammbraten und Broccoli aushalten, für ihn zählten nur Süßigkeiten.
Eine fünfeckige Lampe verscheuchte die einbrechende Dunkelheit, als Stichus, das Kinn in die Hand gestützt und süße Feigen kauend, aufmerksam die Zeichnungen der Schriftrolle studierte, die Sulla ihm geschenkt hatte, und dazu die griechische Beschreibung las. Ah! Ooooh! Unter seiner Tunika regte sich etwas! Und Stichus’ Hand. fiel vom Kinn in den Schoß, verstohlen, obwohl nur ein Glas Feigen ihm zusah.
Einem Impuls folgend, für den er sich zugleich verachtete, ging Lucius Cornelius Sulla am nächsten Morgen über den Palatin zu jener Stelle, wo er vor Wochen Julilla begegnet war. Inzwischen war es Spätfrühling, und überall blühten Blumen - Narzissen und Ameronen, Hyazinthen, Veilchen und hier und da sogar eine frühe Rose. Der Felsbrocken, auf dem er im Januar gesessen hatte, war jetzt fast ganz unter saftiggrünem Gras verschwunden.
Julilla war da. Sie wirkte dünner, auch ihre Honigfarbe schien blässer, und eine Sklavin war bei ihr. Als Julilla Sulla sah, schoß eine wilde, triumphierende Freude in ihre Augen und verwandelte ihr Gesicht - sie war wunderschön. Sulla blieb abrupt stehen, ein Schauer überlief ihn. Venus. Sie war Venus, die Herrscherin über Leben und Tod. Denn war Leben nicht Zeugungstrieb und Tod sein Erlöschen? Alles andere waren Fabeln, die die Menschen erfunden hatten, um Leben und Tod eine tiefere Bedeutung zu geben.
Sie war Venus. War er Mars, ihr gleich an Göttlichkeit? Nein, er war nicht Mars. Wut packte ihn, Enttäuschung und Haß. Gift schoß durch seine Adern, und er verspürte einen überwältigenden Drang, sie zu verletzen und zu demütigen, bis aus Venus wieder Julilla geworden war.
»Ich habe gehört, daß du gestern zurückgekommen bist«, sagte sie.
»Du hast wohl überall Spione?« fragte er.
»In unserer Straße braucht man keine Spione, Lucius Cornelius. Die Diener wissen alles.«
»Nun, hoffentlich glaubst du nicht, daß ich hier nach dir gesucht habe. Ich wollte nur ein wenig Ruhe.«
Sie war schöner geworden in der Zwischenzeit. Mein Liebling, dachte er. Julilla. Der Name ging wie Honig über die Lippen.
»Willst du damit sagen, daß ich deine Ruhe störe?« Trotz ihrer Jugend war sie erstaunlich selbstsicher.
Er lachte und sagte so herablassend wie möglich: »Oh ihr Götter! Kleines Mädchen, du mußt noch lange warten, bis du groß bist! « Er lachte noch einmal. »Ich habe gesagt, daß ich hierher kam, weil ich Ruhe brauche. Also habe ich angenommen, daß ich hier Ruhe finde, oder? Die logische Schlußfolgerung lautet, daß du meine Ruhe nicht im geringsten störst.«
Julilla gab sich nicht geschlagen. »Keineswegs! Die Folgerung könnte auch lauten, daß du nicht erwartet hast, mir hier zu begegnen.«
»Weil es mir absolut gleichgültig war«, sagte er.
Es war ein ungleicher Kampf. Der Glanz in Julillas Augen erlosch, und aus der Unsterblichen wurde die Sterbliche. Julillas Gesicht zuckte, aber sie unterdrückte den Drang zu weinen und starrte Sulla nur verwirrt an. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck und seine Worte nicht mit ihren tiefsten Herzensinstinkten in Einklang bringen, die ihr sagten, daß sie ihn eingefangen hatte.
»Ich liebe dich!« sagte sie, als ob damit alles erklärt sei.
Er lachte wieder. »Fünfzehn! Was weißt du schon von Liebe?«
»Ich bin sechzehn!« erwiderte sie.
»Jetzt hör mir mal zu, Kleine«, sagte Sulla schneidend. »Laß mich in Ruhe! Deine Reden sind mir nicht nur lästig, sondern langsam auch peinlich.« Er wandte sich um und ging weg.
Julilla brach nicht in Tränen aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie in Tränen ausgebrochen wäre. So aber ging sie zu ihrer Sklavin, die so tat, als genieße sie die Aussicht auf den menschenleeren Circus Maximus.
»Früher oder später kriege ich ihn, Chryseis.«
»Ich glaube nicht, daß er dich will«, sagte Chryseis.
»Natürlich will er mich! « rief Julilla. »Und wie er mich will! «
Chryseis wußte aus langjähriger Erfahrung mit Julilla, wann es besser war, den Mund zu halten. Sie widersprach nicht, sondern seufzte nur und zuckte mit den Schultern. »Mach, was du willst.«
»Das tue ich sowieso.«
Schweigend machten sich die beiden Mädchen auf den Rückweg. Als sie den großen Tempel der Magna Mater erreicht hatten, brach Julilla das Schweigen. Ihre Stimme klang entschlossen.
»Von jetzt an werde ich nichts mehr essen«, sagte sie.
Chryseis blieb erschrocken stehen. »Und was willst du damit erreichen?«
»Im Januar hat er gesagt, daß ich dick bin. Und er hat recht.«
»Julilla, du bist nicht dick!«
»Doch. Deshalb habe ich seit Januar keine Süßigkeiten mehr gegessen. Jetzt bin ich ein wenig schlanker, aber noch nicht schlank genug. Er mag schlanke Frauen. Schau dir nur Nikopolis an. Ihre Arme sind dünn wie Strohhalme.«
»Aber sie ist alt!« rief Chryseis. »Was dir steht, würde an ihr furchtbar aussehen. Außerdem werden sich deine Eltern Sorgen machen, wenn du nichts mehr ißt - sie werden glauben, daß du krank bist! «
»Sollen sie«, sagte Julilla. »Wenn sie glauben, daß ich krank bin, glaubt Lucius Cornelius das auch. Und dann wird er sich furchtbare Sorgen um mich machen.«
Vier Tage nach Sullas Rückkehr erkrankte Lucius Gavius Stichus in Clitumnas Haus an einer Verdauungsstörung und mußte das Bett hüten. Besorgt ließ Clitumna ein halbes Dutzend der angesehensten Ärzte des Viertels kommen, die übereinstimmend Lebensmittelvergiftung diagnostizierten.
»Aber er hat nichts anderes gegessen als wir anderen!« wandte Clitumna ein. »Er ißt sogar viel weniger.«
»Ah, domina, da irrst du dich aber«, lispelte der Arzt Athenodorus Siculus, ein Grieche aus Sizilien, der sich neugierig im ganzen Haus umgesehen hatte. »Du weißt doch bestimmt, daß Lucius Gavius im Arbeitszimmer einen halben Süßwarenladen aufbewahrt?«