»Ich weiß es auch nicht«, sagte Marius. »Aber ich werbe Klienten an.«
»Aber zurück zum Ausgangspunkt«, lächelte Rutilius Rufus. »Wir wollten über meinen Neffen Drusus sprechen, wenn ich mich richtig erinnere.«
Marius sprang auf. »Stimmt! Komm mit, Publius Rutilius, vielleicht sind wir noch nicht zu spät dran. Ich will dir ein Beispiel für die neue Einstellung der großen Familien gegenüber den italischen Bundesgenossen zeigen!«
Rutilius erhob sich ebenfalls. »Ich komme ja schon! Aber wohin?«
»Zum Forum natürlich!« Marius ging bereits den Abhang des Tempelbezirks zur Straße hinunter. »Dort findet gerade ein Prozeß statt, und wenn wir Glück haben, ist er noch nicht vorbei.«
»Es überrascht mich, daß du davon weißt«, sagte Rutilius Rufus trocken. »Du kümmerst dich doch sonst nicht um die Vorgänge auf dem Forum.«
»Und mich überrascht, daß du nicht seit heute morgen auf dem Forum bist«, entgegnete Marius. »Schließlich ist es der erste Auftritt deines Neffen Drusus als Advokat.«
»Nein! Seinen ersten Auftritt hatte er schon vor Monaten. Damals vertrat er die Anklage gegen den obersten Finanztribunen.«
»Ach so.« Marius zuckte die Schultern und beschleunigte den Schritt. »Dann kann ich dir natürlich kein Versäumnis vorwerfen. Aber auf jeden Fall solltest du die Karriere des jungen Drusus genau beobachten, Publius Rutilius. Dann würdest du nämlich auch meine Ausführungen über die italischen Bundesgenossen besser verstehen.«
»Bitte kläre mich auf.« Rutilius Rufus’ Atem ging schwer. Marius vergaß immer, daß sein Freund kürzere Beine hatte als er.
»Ich hörte heute auf dem Forum jemanden in schönstem Latein und mit einer schönen Stimme reden. Ein neuer Redner, dachte ich und blieb stehen. Es war dein junger Neffe Drusus!«
»In welchem Fall vertritt er diesmal die Anklage?«
»Das ist ja gerade das Interessante: Er tritt diesmal nicht als Ankläger auf, sondern als Verteidiger. Noch dazu vor dem Fremdenprätor! Es ist ein wichtiger Fall, denn es werden sogar Geschworene berufen.«
»Mord an einem römischen Bürger?«
»Nein. Bankrott.«
»Das ist ungewöhnlich«, schnaufte Rutilius Rufus.
»Wie ich die Sache verstanden habe, handelt es sich um eine Art Präzedenzfall«, fuhr Marius fort, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Kläger ist der Geldhändler Gaius Oppius, Beklagter ein marsischer Geschäftsmann namens Lucius Fraucus aus Marruvium. Wie mir ein Informant erzählt hat, hatte Oppius die Außenstände auf seinen italischen Konten satt. Deshalb beschloß er, einen Italiker hier in Rom vor Gericht zu bringen, um ein Exempel zu statuieren. Er will den Italikern solche Angst einjagen, daß sie ihre - vermutlich exorbitanten - Schuldzinsen pünktlich zahlen.«
»Die Zinsen«, keuchte Rutilius Rufus, »liegen bei zehn Prozent.«
»Nur wenn du Römer bist«, erwiderte Marius.
»Wenn du so weiterredest, wirst du wie die Gracchen enden, nämlich mausetot.«
»Unsinn!«
Rutilius Rufus verlangsamte seinen Schritt. »Ich möchte lieber nach Hause. Ich weiß wirklich nicht, warum wir zum Forum gehen.«
»Weil dein Neffe immer noch spricht. Als ich das Forum verließ, hatte er noch gute zweieinhalb Stunden für sein Plädoyer«, antwortete Marius. »Der Prozeß ist sozusagen ein Experiment. Hat irgendwas mit den neuen Prozeßregeln zu tun, die sie einführen wollen. Zuerst kamen die Zeugen dran, dann erhielt die Anklage zweieinhalb Stunden für die Zusammenfassung, dann die Verteidigung drei Stunden für das Plädoyer. Danach bittet der Fremdenprätor die Geschworenen um ihr Urteil.«
Sie schritten den Clivus Sacer hinunter, und der untere Teil des Forum Romanum lag jetzt direkt vor ihnen.
»Gut! Wir kommen gerade rechtzeitig zum Schlußplädoyer«, sagte Marius.
Marcus Livius Drusus sprach immer noch, und immer noch hörten ihm die Anwesenden gebannt zu. Der neue Advokat war deutlich unter zwanzig Jahre alt, von mittlerer Größe und gedrungener Gestalt, und er hatte schwarze Haare und eine dunkle Haut: kaum ein Advokat, der durch seine physische Erscheinung zu bannen vermochte, obwohl sein Gesicht nicht unattraktiv war.
»Ist er nicht erstaunlich?« fragte Marius leise. »Man fühlt sich persönlich angesprochen und glaubt sich geradezu allein mit ihm.«
Marius und Rutilius standen am hinteren Rand einer großen Menge, aber sogar auf diese Entfernung hatten sie den Eindruck, als seien Drusus’ dunkle Augen allein auf sie gerichtet.
»Nirgends steht geschrieben, daß sich ein Mann nur deshalb im Recht befindet, weil er Römer ist«, sagte der junge Mann gerade. »Ich spreche nicht für den Beklagten Lucius Fraucus, ich spreche für Rom! Für Ehre, Integrität und Gerechtigkeit! Nicht für jene Art vordergründiger Gerechtigkeit, die nur die Buchstaben des Gesetzes versteht, sondern für die Gerechtigkeit, die den Sinn hinter dem Wortlaut begreift. Das Gesetz darf kein Felsbrocken sein, der auf einen Menschen herabfällt und ihn gleichmacht mit allen anderen Menschen, denn die Menschen sind nicht gleich. Das Gesetz soll ein weiches Tuch sein, das den Menschen umhüllt und dennoch seine Konturen erkennen läßt, auch wenn das Tuch für alle Menschen gleich ist. Wir dürfen nie vergessen, daß wir, als Bürger Roms, dem Rest der Welt ein Beispiel geben müssen, vor allem, was unsere Gesetze und Gerichte angeht.«
Drusus unterstrich seine Worte mit beredten Gesten. Die kleinste Fingerbewegung, die weit ausholenden Bewegungen des rechten Arms, die Kopfbewegungen und das Mienenspiel - alles beherrschte er perfekt.
»Lucius Fraucus, Italiker aus Marruvium, ist ein Opfer, kein Täter. Niemand - auch Lucius Fraucus nicht - bestreitet die Tatsache, daß der große Geldbetrag, den Gaius Oppius als Kredit gegeben hat, verschwunden ist. Es bestreitet auch niemand, daß das Geld Gaius Oppius zurückerstattet werden muß, und zwar einschließlich der aufgelaufenen Zinsen. Lucius Fraucus ist bereit, notfalls seine Häuser zu verkaufen, seine Ländereien, seine Geschäftsbeteiligungen, seine Sklaven, seine Möbel - seinen gesamten Besitz! «
Drusus trat vor die Geschworenen und musterte sie eindringlich. »Ihr habt die Zeugen gehört. Ihr habt die Anklage gehört. Lucius Fraucus hat das Geld geliehen, aber er hat es nicht gestohlen. Deshalb behaupte ich, daß Lucius Fraucus das eigentliche Opfer ist, nicht der Geldhändler Gaius Oppius. Wenn ihr, die Geschworenen, Lucius Fraucus verurteilt, unterwerft ihr ihn dem vollen Strafmaß des Gesetzes, das für Menschen gilt, die nicht Bürger dieser großen Stadt sind und auch nicht die latinischen Rechte besitzen. Das gesamte Hab und Gut des Lucius Fraucus wird versteigert werden. Ihr wißt, was das bedeutet. Es wird nicht annähernd soviel Geld einbringen, wie es wert ist, vielleicht nicht einmal genug, um die geborgte Summe zurückzuerstatten.« Bei dieser letzten Bemerkung warf Drusus einen vielsagenden Blick auf den Geldhändler Gaius Oppius.
»Nun denn! Wenn Lucius Fraucus seine Schulden deshalb nicht bezahlen kann, wird er in Schuldknechtschaft verkauft werden, bis die Differenz zwischen der geforderten Summe und dem Erlös aus der Versteigerung gedeckt ist. Nun mag Lucius Fraucus zwar ein schlechter Menschenkenner sein, wenn es um die Auswahl seiner wichtigsten Angestellten geht, doch er ist ein geschickter und erfolgreicher Geschäftsmann. Aber wie soll er jemals seine Schulden zurückzahlen, wenn er - arm und entehrt - in Schuldknechtschaft lebt?«
Drusus konzentrierte sich nun ganz auf den römischen Geldhändler, einen milde aussehenden, etwa fünfzigjährigen Mann, der Drusus gleichfalls gebannt lauschte.
»Wird ein Mensch, der kein römischer Bürger ist, eines Verbrechens für schuldig befunden, so folgt eines unausweichlich: Er wird ausgepeitscht. Er wird mit einer Peitsche geschlagen, die mit Widerhaken versehen ist. Er wird gepeitscht, bis von seiner Haut und seinen Muskeln nichts mehr übrig ist, bis er für den Rest seines Lebens verunstaltet ist und schlimmere Narben davonträgt als ein Minensklave.«