Marius’ Nackenhaare sträubten sich: Hatte der junge Mann ihn bei diesen Worten direkt angeblickt oder hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Denn Marius war einer der größten Minenbesitzer Roms. Doch wie hätte der junge Drusus einen verspäteten Zuhörer am hinteren Rand einer so großen Menschenmenge entdecken sollen?
»Wir sind Römer! « rief er. »Italien und seine Bürger stehen unter unserem Schutz. Wollen wir uns wirklich wie Minenbesitzer gegenüber Menschen verhalten, die uns als Vorbild ansehen? Wollen wir einen Unschuldigen wegen einer Formsache verurteilen - nur weil ein Schuldschein seine Unterschrift trägt? Wollen wir seine Bereitschaft ignorieren, volle Wiedergutmachung zu leisten? Wollen wir ihm weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen, als wir einem römischen Bürger zubilligen würden? Wollen wir einen Mann auspeitschen lassen, dem man eher eine Narrenmütze aufsetzen sollte, weil er einem Dieb vertraut hat? Wollen wir seine Frau zur Witwe machen? Wollen wir seinen Kindern den liebevollen Vater nehmen und sie zu Waisen machen? Sicherlich nicht, verehrte Geschworene! Denn wir sind Römer. Wir sind besser als andere Menschen! «
Der Redner wandte sich abrupt von dem Geldhändler ab. Eine kleine Pause entstand. Alle Augen waren wie gebannt auf Drusus gerichtet, fast alle Augen - mit Ausnahme der Augen einiger Geschworener in der vordersten Reihe, die sich ansonsten von den übrigen Mitgliedern der Jury nicht unterschieden. Auch Gaius Marius und Publius Rutilius Rufus sahen den Redner nicht an. Einer der Geschworenen starrte Oppius durchdringend an und fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle, als ob er sich dort kratzen wollte. Die Antwort folgte sofort: ein kaum wahrnehmbares Kopfschütteln des großen Bankiers. Gaius Marius lächelte.
»Ich danke dir, praetor peregrinus«, sagte der junge Mann und verbeugte sich vor dem Fremdenprätor. Plötzlich wirkte er steif und schüchtern.
»Ich danke dir, Marcus Livius«, antwortete der Fremdenprätor und richtete seinen Blick auf die Geschworenen. »Bürger Roms, schreibt euren Spruch auf die Tafeln und übergebt sie dem Gericht.«
Die Geschworenen zogen kleine graue Tontafeln und Kohlestifte hervor, doch sie schrieben nicht. Statt dessen starrten sie auf die Hinterköpfe der Geschworenen, die in der Mitte der ersten Reihe saßen. Der Mann, der Oppius eine stumme Frage gestellt hatte, nahm seinen Stift und zeichnete einen Buchstaben auf seine Tontafel. Dann gähnte er ausgiebig und reckte dabei die Arme hoch über den Kopf. Die Tafel hielt er noch immer in der linken Hand. Die übrigen Geschworenen begannen nun eifrig zu schreiben und überreichten dann ihre Tafeln den Liktoren, die sie einsammelten.
Der Fremdenprätor zählte die Stimmen selbst aus. Atemlos warteten alle auf das Urteil. Der Prätor blickte erst auf, als er alle einundfünfzig Tafeln gezählt hatte.
»Freispruch«, sagte er. »Dreiundvierzig dafür, acht dagegen. Lucius Fraucus von Marruvium, Angehöriger des mit Rom verbündeten Volkes der Marser, du wirst von diesem Gericht hiermit freigesprochen, aber nur unter der Bedingung, daß du die versprochene volle Wiedergutmachtung leistest. Du wirst noch heute die Einzelheiten mit deinem Gläubiger Gaius Oppius klären.«
Damit war der Prozeß beendet. Marius und Rutilius Rufus warteten, bis die versammelten Menschen dem jungen Marcus Livius Drusus ihre Glückwünsche ausgesprochen hatten.
»Ich gratuliere dir, Marcus Livius«, sagte Marius und reichte ihm die Hand.
»Danke, Gaius Marius.«
»Gut gemacht«, sagte Rutilius Rufus.
Gemeinsam verließen sie das Forum.
Rutilius Rufus beteiligte sich nicht an dem Gespräch zwischen Marius und Drusus. Er freute sich, daß sein Neffe seine Sache so gut gemacht hatte, aber er kannte auch die Schwächen in dessen Charakter. Der junge Drusus war ein ziemlich humorloser Mensch, brillant, aber zugleich seltsam starrsinnig, ernst, zäh, ehrgeizig und unfähig, eine Sache aufzugeben, in die er sich verbissen hatte, selbst wenn er sich dadurch selbst schädigte. Er würde es einmal nicht leicht haben. Trotzdem war er ein ehrenwerter Kerl.
»Es wäre schlecht für Rom gewesen, wenn dein italischer Klient verurteilt worden wäre«, sagte Marius gerade.
»Sehr schlecht«, stimmte Drusus zu. »Fraucus ist einer der einflußreichsten Männer in Marruvium, er gehört dem marsischen Ältestenrat an.«
Sie waren am Ausgang des Forums angekommen. »Geht ihr den Palatin hinauf?« fragte Drusus.
»Nein.« Publius Rutilius Rufus war aus seinen Gedanken wieder erwacht. »Gaius Marius wird bei mir speisen, Neffe.«
Drusus verbeugte sich und ging in Richtung Clivus Palatinus weiter. Hinter Marius und Rutilius Rufus tauchte die wenig einnehmende Gestalt des jungen Quintus Servilius Caepio auf. Caepio war Drusus’ bester Freund, und er beeilte sich, Drusus einzuholen.
»Diese Freundschaft gefällt mir nicht.« Rutilius Rufus sah den beiden jungen Männern nach.
»Warum nicht?«
»Die Familie Servillus Caepio ist sehr vornehm und sagenhaft reich, aber bei ihnen paart sich ein kleiner Verstand mit einer großen Einbildung. Meinem Neffen scheinen die Unterwürfigkeit und die Schmeicheleien des jungen Caepio mehr zu bedeuten als die Freundschaft seiner anderen Altersgenossen. Schade. Denn ich fürchte, Gaius Marius, daß der junge Drusus sich überschätzt, wenn er sich nur an Caepios Ergebenheit orientiert.«
Später in derselben Woche besuchte Marius seinen Freund Rutilius Rufus noch einmal. Rutilius war beim Packen.
»Panaitios liegt im Sterben«, sagte er mit Tränen in den Augen.
»Oh, das tut mir leid! Wo lebt er? Wirst du rechtzeitig zu ihm kommen?«
»Ich hoffe es. Er lebt in Tarsus. Offenbar hat er nach mir verlangt. Stell dir das vor: Von all den Römern, die er unterrichtet hat, will er ausgerechnet mich sehen!«
Marius sah ihn freundlich an. »Wundert dich das? Schließlich warst du sein bester Schüler.«
»Nein, nein«, sagte Rutilius abwesend.
»Ich will dich jetzt nicht länger stören, Publius Rutilius.«
»Unsinn.« Rutilius Rufus führte Marius in sein Arbeitszimmer, das ein einziges Chaos war. Auf allen Tischen stapelten sich Buchrollen, die meisten nur halb aufgerollt, einige vom Tisch auf den Boden hängend - Kaskaden kostbaren ägyptischen Papiers.
»Laß uns in den Garten gehen«, sagte Marius. Es schien ihm unmöglich, in diesem Durcheinander ein ruhiges Gespräch zu führen, obwohl er sicher war, daß Rutilius Rufus bei Bedarf jede beliebige Buchrolle sofort finden würde.
»Woran schreibst du gerade?« fragte er. Sein Blick war auf eine lange Rolle gefallen, die zur Hälfte mit Rutilius Rufus’ gestochener Handschrift bedeckt war.
»Dazu wollte ich dir später noch ein paar Fragen stellen«, antwortete Rutilius, während er seinen Besucher in den Garten führte.
»Ich arbeite an einem Handbuch der Kriegführung. Wir haben uns doch neulich über die unfähigen Feldherren unterhalten. Ich dachte mir, daß endlich einmal ein kompetenter Mann ein hilfreiches Buch über Kriegführung schreiben sollte. In den ersten Teilen geht es um Logistik und Planung, jetzt bin ich bei Taktik und Strategie. Darüber kannst du mir sicher einiges sagen.«
»Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung.« Marius setzte sich auf eine Holzbank. Der Garten war sehr klein und ohne Sonnenlicht. »Hat dich Metellus Schweinebacke wieder einmal besucht?«
»Er war erst heute morgen hier.« Rutilius ließ sich ebenfalls nieder.
»Mich hat er heute morgen auch besucht.«
»Unser Freund Schweinebacke hat sich überhaupt nicht verändert.« Rutilius Rufus lachte. »Wenn ich hier einen Schweinestall hätte, ich hätte ihn auf der Stelle hineingeworfen.«