Komm mich besuchen, knie an meinem Schmerzenslager nieder und küsse mich. Verurteile mich nicht zum Tod!
Ja, es war Zeit für Sulla. Zeit, vielen Dingen ein Ende zu setzen, Zeit, Clitumna und Julilla abzuschütteln und all die anderen menschlichen Bindungen, die seinen Geist so schrecklich einengten. Auch Metrobius mußte verschwinden.
Er mußte handeln, ehe Clitumnas Stimmung sich aufheiterte. Und er brauchte Gaius Julius Caesar hinter sich. So klopfte Sulla eines Tages Mitte Oktober an Caesars Tür.
Der Junge, der den Türdienst versah, ließ ihn ohne Zögern ein. Sulla erkannte, daß er auf die Liste derjenigen gesetzt worden war, die Caesar jederzeit empfing, wenn er zu Hause war.
»Ist Gaius Julius zu sprechen?«
»Ja, Lucius Cornelius. Bitte warte einen Augenblick«, sagte der Junge und verschwand eilig in der Richtung von Caesars Arbeitszimmer.
Sulla richtete sich darauf ein, eine Weile warten zu müssen, und schlenderte durch das bescheidene Atrium. Im Vergleich zu diesem schlichten, schmucklosen Raum wirkte Clitumnas Atrium wie das Vorzimmer zum Harem eines orientalischen Herrschers. Noch während er sich Gedanken über Caesars Atrium machte, kam Julilla herein.
Wie lange hatte sie wohl jeden Sklaven, der für den Türdienst in Frage kam, beschwatzt, daß er sie sofort benachrichtigen müsse, wenn Lucius Cornelius zu Besuch kam? Und wie lange würde es jetzt dauern, bis der Junge dorthin eilte, wo er sofort hätte hineilen sollen, und Caesar sagte, wer ihn sprechen wollte?
Diese beiden Fragen schossen Sulla durch den Kopf, schneller als ein Blitz aufzuckt und wieder verglüht, schneller als sein Körper auf den Schock von Julillas Anblick reagierte.
Seine Knie gaben nach, er mußte die Hand ausstrecken und nach dem ersten Gegenstand greifen, den er zu fassen bekam. Zufällig war es ein alter Wasserkrug aus vergoldetem Silber. Der Wasserkrug fiel um, als Sulla sich blindlings an ihn klammerte, und stürzte laut scheppernd zu Boden, während Julilla, die Hände vor das Gesicht geschlagen, hinausrannte.
Das Getöse hatte alle Hausbewohner alarmiert. Sulla merkte, daß der letzte Blutstropfen aus seinem ohnehin blassen Gesicht gewichen war und der kalte Angstschweiß ihm den Rücken herunterrann. Seine Beine knickten ein, er sackte zu Boden. Da saß er, den Kopf auf den Knien, die Augen fest geschlossen, und versuchte, das Bild dieses Skeletts, das von Julillas goldener Haut umhüllt war, wieder abzuschütteln.
Caesar und Marcia halfen ihm auf die Beine und führten ihn in Caesars Arbeitszimmer.
Nach einem großem Schluck unverdünnten Weines kehrte allmählich seine Gesichtsfarbe zurück, und er konnte sich mit einem Seufzer auf dem Sofa aufsetzen. Hatten Caesar und Marcia etwas gesehen? Und wohin war Julilla gegangen? Was sollte er sagen? Was tun?
Caesar sah grimmig aus, Marcia gleichfalls.
»Es tut mir leid, Gaius Julius«, sagte Sulla und nahm noch einen Schluck Wein. »Ein Schwächeanfall. Ich weiß nicht, was mit mir los ist.«
»Ruh dich aus, Lucius Cornelius«, sagte Caesar. »Ich weiß, was mit dir los ist. Du hast ein Gespenst gesehen.«
Nein, diesen Mann konnte man nicht täuschen - jedenfalls nicht so plump. Er war viel zu klug, beobachtete viel zu genau.
»War das wirklich eure jüngere Tochter?« fragte Sulla.
»Ja.« Caesar schickte seine Frau mit einem Nicken aus dem Zimmer.
»Ich habe sie vor einigen Jahren manchmal am Porticus Margaritaria gesehen, zusammen mit ihren Freundinnen«, sagte Sulla, »und sie war genauso, wie ein römisches junges Mädchen sein soll. Sie lachte, war niemals vulgär, ach, ich weiß nicht. Und dann, einmal auf dem Palatin, als ich tiefste Schmerzen litt, seelische Schmerzen, verstehst du...«
»Ja, ich glaube, ich verstehe«, sagte Caesar.
»Sie fragte, ob sie mir helfen könne, und ich war ziemlich unfreundlich zu ihr. Ich glaubte, du würdest es nicht gerne sehen, wenn sie mit Leuten wie mir Bekanntschaft schließt. Aber sie ließ sich nicht abweisen, und ich brachte es nicht fertig, richtig grob zu werden. Weißt du, was sie getan hat?« Sullas Augen sahen noch merkwürdiger aus als sonst. Seine Pupillen waren riesengroß, um die Pupillen herum liefen zwei schmale Ringe in hellem Grauweiß und darum herum zwei Ringe in Grauschwarz. Diese Augen starrten zu Caesar hinauf und wirkten gar nicht menschlich.
»Was hat sie getan?« fragte Caesar leise.
»Sie hat mir einen Kranz aus Gras gemacht! Sie hat mir einen Kranz geflochten und ihn mir aufgesetzt. Mir! Und ich hatte... ich hatte eine Vision!«
Er schwieg. Da keiner der Männer wußte, wie er dieses Schweigen brechen konnte, trat eine lange Stille ein. Beide Männer waren in Gedanken.
»Gut«, sagte Caesar schließlich seufzend, »was hat dich zu mir geführt, Lucius Cornelius?«
Damit sagte er auf seine Weise, daß er Sullas Unschuld als erwiesen ansah, unabhängig davon, wie er das Verhalten seiner Tochter deutete. Und er sagte außerdem, daß er zum Thema Julilla nichts mehr hören wollte. Sulla hatte mit dem Gedanken gespielt, von den Briefen zu erzählen. Jetzt verwarf er den Gedanken.
Er straffte sich, stand vom Sofa auf, setzte sich auf den Stuhl vor Caesars Schreibtisch, der für die Klienten bestimmt war, und wandte sich wie ein Klient an Caesar.
»Clitumna«, sagte er. »Ich wollte mit dir über Clitumna sprechen. Vielleicht sollte ich lieber mit deiner Frau über sie sprechen, aber auf alle Fälle gehört es sich, daß ich mich erst einmal an dich wende. Clitumna ist nicht mehr wie früher. Sie ist deprimiert, weint viel und interessiert sich für nichts. Sie verhält sich ganz und gar nicht normal. Nicht einmal für die Trauerzeit. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.« Er holte tief Luft. »Ich stehe in ihrer Schuld, Gaius Julius. Sie ist eine arme, dumme, ordinäre Frau, aber ich stehe in ihrer Schuld. Sie war gut zu meinem Vater, und sie war gut zu mir. Und ich weiß nicht, was ich zu ihrem Besten mit ihr tun soll, ich bin einfach ratlos.«
Caesar lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Irgend etwas störte ihn an dem, was Sulla sagte. Er zweifelte nicht an Sullas Darstellung, er hatte Clitumna selbst gesehen und oft genug von Marcia gehört, wie es um sie stand. Aber warum war Sulla zu ihm gekommen? Das paßte nicht zu Sullas Charakter. Caesar bezweifelte, daß Sulla wirklich wissen wollte, was er mit seiner Stiefmutter machen sollte, die einem Gerücht zufolge auch noch seine Geliebte war. In diesem Punkt wollte er freilich kein Urteil fällen. Wenn Sulla hierherkam und um Hilfe bat, deutete das eher darauf hin, daß das Gerücht eine Lüge war, typischer Palatin-Klatsch. Genauso wie das Geschwätz, demzufolge Sulla zu Clitumna und Nikopolis sexuelle Beziehungen unterhalten hatte - und auch noch gleichzeitig! Marcia hatte so etwas angedeutet, aber als Caesar in sie gedrungen war, hatte sie ihm keine konkreten Beweise liefern können. Caesar aber wollte nicht bloßen Gerüchten glauben. Eindeutige Beweise waren eine Sache, bloßes Gerede eine ganz andere. Und doch lag ein falscher Ton darin, daß Sulla ihn heute aufsuchte und um Rat bat.
An dieser Stelle dämmerte Caesar eine mögliche Antwort. Daß ein Mann wie Sulla beim Anblick eines ausgemergelten jungen Mädchens in Ohnmacht fiel, war doch höchst ungewöhnlich! Und dann die seltsame Geschichte mit dem Graskranz. Caesar wußte natürlich, was so ein Kranz bedeutete. Vielleicht waren die beiden nur ein paarmal im Vorübergehen zusammengekommen, aber irgend etwas war zwischen ihnen im Gang, und das mußte er sorgfältig beobachten. Natürlich konnte er keine Beziehung zwischen den beiden dulden. Wenn sie sich zueinander hingezogen fühlten, war das ihr Pech. Julilla würde einen Mann heiraten, der hoch erhobenen Hauptes in den Kreisen verkehren konnte, zu denen Caesars Familie gehörte.
Während Caesar diese Überlegungen anstellte, fragte sich Sulla, an was Caesar denken mochte. Wegen Julilla war das Gespräch nicht so verlaufen, wie er geplant hatte, nicht einmal annähernd so. Wie konnte er nur so wenig Selbstbeherrschung haben? In Ohnmacht fallen! Er, Lucius Cornelius Sulla! Nachdem er sich so verraten hatte, war ihm keine andere Wahl geblieben, als dem wachsamen Vater eine Erklärung dafür zu liefern, und das wiederum hatte bedeutet, einen Teil der Wahrheit zu sagen. Hätte es Julilla geholfen, hätte er die ganze Wahrheit gesagt, aber er glaubte nicht, daß Caesar die Lektüre ihrer Briefe Freude machen würde. Sulla hatte sich in eine schwierige Lage gebracht und war darüber keineswegs erfreut.