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Ich schob ihr eine weitere Kapsel in den Rachen. Noch einmal überprüfte ich die Werte — ihre Haut war angesichts der Umstände nicht kälter als erwartet, und sie schien nicht feucht zu sein. Abgesehen von den Prellungen nahm ihre Farbe wieder ein etwas normaleres Braun an. Ich brachte einen Behälter mit Schnee herein, um ihn schmelzen zu lassen, und stellte ihn in eine Ecke, wo sie ihn hoffentlich nicht umwarf, wenn sie aufwachte. Danach ging ich hinaus und schloss die Tür hinter mir ab.

Die Sonne stand nun höher am Himmel, aber das Licht war kaum stärker geworden. Inzwischen waren mehr Fußspuren auf dem gleichmäßigen Schnee zu sehen, den der Sturm der gestrigen Nacht gebracht hatte, und einige Nilter waren unterwegs. Ich zog den Schlitten wieder zum Gasthaus zurück, stellte ihn dahinter ab. Niemand sprach mich an, kein Laut drang aus dem dunklen Türeingang. Ich ging in Richtung Stadtzentrum.

Hier waren Leute unterwegs, gingen ihren Geschäften nach. Dicke blasse Kinder in Hosen und wattierten Hemden bewarfen sich mit Schnee, hielten inne und starrten mich mit großen staunenden Augen an, wenn sie mich bemerkten. Die Erwachsenen taten so, als würde ich nicht existieren, doch im Vorbeigehen verfolgten mich ihre Blicke. Ich ging in einen Laden, trat aus dem, was man hier Tageslicht nannte, in Düsternis und Kälte, die nur fünf Grad wärmer als draußen war.

Mehrere Leute standen herum und redeten, verstummten aber sofort, als ich hereinkam. Mir wurde klar, dass mein Gesicht ausdruckslos war, also richtete ich meine Gesichtsmuskeln so aus, dass ich freundlich und unverbindlich wirkte.

»Was wollen Sie?«, brummte die Ladenbesitzerin.

»Die Leute hier sind doch bestimmt vor mir dran.« Ich hoffte, dass es tatsächlich eine gemischtgeschlechtliche Gruppe war, wie ich in meinen Satz angedeutet hatte. Als Antwort kam nur Schweigen. »Ich hätte gern vier Scheiben Brot und ein dickes Stück Fett. Dazu zwei Hypothermie-Kits und zwei Universalkorrektiva, falls Sie so etwas haben.«

»Ich habe Zehner, Zwanziger und Dreißiger.«

»Dreißiger, bitte.«

Sie stapelte meinen Einkauf auf dem Ladentisch. »Dreihundertfünfundsiebzig.« Hinter mir hustete jemand — man berechnete mir schon wieder zu viel.

Ich bezahlte und ging. Die Kinder lachten immer noch zusammengedrängt auf der Straße. Die Erwachsenen gingen immer noch an mir vorbei, als wäre ich Luft. Ich machte noch einen weiteren Einkauf — Seivarden würde etwas zum Anziehen brauchen. Danach ging ich zum Zimmer zurück.

Seivarden war immer noch bewusstlos, und es gab immer noch keine Hinweise auf einen Schock, soweit ich sehen konnte. Der Schnee im Behälter war fast geschmolzen, und ich legte eine halbe Scheibe vom steinharten Brot hinein, um es aufzuweichen.

Eine Kopfverletzung oder eine Schädigung der inneren Organe waren die größtmöglichen Gefahren. Ich brach die soeben gekauften zwei Korrektiva auf, hob die Decke an, um Seivarden eins auf den Bauch zu legen, schaute zu, wie es zerfloss, sich ausbreitete und dann zu einer durchsichtigen Schale verhärtete. Das andere legte ich ihr seitlich am Gesicht an, wo die Verletzung am schlimmsten zu sein schien. Als es sich verhärtet hatte, zog ich meinen Außenmantel aus, legte mich hin und schlief ein.

Etwas mehr als siebeneinhalb Stunden später regte sich Seivarden, und ich wachte auf. »Sind Sie wach?«, fragte ich. Das von mir angebrachte Korrektiv hielt ein Auge und eine Hälfte des Mundes geschlossen, aber die Prellungen und Schwellungen an ihrem Gesicht waren sichtlich zurückgegangen. Ich überlegte kurz, was der beste Gesichtsausdruck wäre, und nahm ihn an. »Ich habe Sie vor einem Gasthaus im Schnee gefunden. Sie sahen aus, als hätten Sie Hilfe nötig.« Sie atmete leicht krächzend, ohne mir den Kopf zuzuwenden. »Haben Sie Hunger?« Keine Antwort, sie starrte nur ins Leere. »Haben Sie sich am Kopf gestoßen?«

»Nein«, sagte sie leise, das Gesicht entspannt und schlaff.

»Haben Sie Hunger?«

»Nein.«

»Wann haben Sie zuletzt gegessen?«

»Ich weiß nicht.« Ihre Stimme war ruhig und gleichmäßig.

Ich richtete sie auf und lehnte sie behutsam gegen die graugrüne Wand, damit ich nicht noch mehr Verletzungen verursachte, und passte auf, dass sie nicht umkippte. Sie blieb sitzen, also löffelte ich ihr vorsichtig am Korrektiv vorbei langsam etwas Brot-und-Wasser-Brei in den Mund. »Schlucken Sie«, sagte ich, was sie auch tat. Auf diese Weise gab ich ihr die Hälfte von dem, was in der Schüssel war, dann aß ich den Rest und holte noch einen Topf voll Schnee herein.

Sie beobachtete, wie ich wieder eine halbe Scheibe vom harten Brot in den Topf legte, sagte aber nichts, ihr Gesicht immer noch friedlich. »Wie heißen Sie?«, fragte ich. Keine Antwort.

Sie hatte vermutlich Kef genommen. Es hieß immer wieder, Kef würde Gefühle unterdrücken, was zwar stimmte, aber das war noch nicht alles. Früher einmal hätte ich die Wirkung von Kef genau beschreiben können, aber ich bin nicht mehr so, wie ich einmal war.

Soweit ich wusste, nahmen die Leute Kef, um nichts mehr zu fühlen. Oder weil sie glaubten, dass sie ohne Gefühle höchste Vernunft, äußerste Stringenz, wahre Erleuchtung erlangen würden. Aber so funktioniert es nicht.

Seivarden aus dem Schnee zu ziehen hatte mich viel Zeit und Geld gekostet, was ich mir kaum leisten konnte. Und wozu überhaupt? Sich selbst überlassen würde sie sich bald den nächsten Schuss Kef besorgen und den Weg in eine andere schmierige Kneipe finden, um dann wirklich zu Tode zu kommen. Wenn sie es so wollte, hatte ich kein Recht, sie davon abzuhalten. Aber wenn sie tatsächlich sterben wollte, warum hatte sie es dann nicht sauber erledigt, ihre Absicht kundgetan und einen Arzt aufgesucht, so wie es alle taten? Ich verstand es nicht.

Es gab sehr vieles, das ich nicht verstand, und in den neunzehn Jahren, seit ich vorgab, ein Mensch zu sein, hatte ich längst nicht so viel gelernt, wie ich erwartet hatte.

2

Neunzehn Jahre, drei Monate und eine Woche bevor ich Seivarden im Schnee fand, war ich ein Truppentransporter im Orbit um den Planeten Shis’urna. Truppentransporter gehörten mit sechzehn Decks übereinander zu den mächtigsten Schiffen der Radchaai. Kommandobrücke, Verwaltung, Medizinische Abteilung, Hydrokultur, Technik, Zentraler Zugang und ein Deck für jede Dekade, Wohn- und Arbeitsraum für meine Offizierinnen, von denen mir jeder Atemzug und jede Muskelzuckung bekannt waren.

Truppentransporter bewegen sich nur selten. Ich saß fest, wie ich die längste Zeit meiner zweitausendjährigen Existenz im jeweiligen System festgesessen hatte, und spürte die bittere Kälte des Vakuums außerhalb meines Schiffskörpers. Der Planet Shis’urna ähnelte einer blau-weißen gläsernen Empfangshalle, umkreist von einer Raumstation mit einem steten Strom ankommender, an- und abdockender Raumschiffe, die wieder zu einem der mit Leuchtbojen markierten Tore abflogen. Aus meiner Perspektive im Orbit waren die Grenzen der verschiedenen Nationen und Hoheitsgebiete auf Shis’urna nicht zu erkennen, nur auf der Nachtseite des Planeten waren die Städte und Straßennetze dazwischen stellenweise hell erleuchtet, zumindest da, wo sie seit der Annexion wiederhergestellt worden waren.

Ich spürte und hörte — ohne sie immer sehen zu können — die Anwesenheit der anderen Schiffe, der kleineren und schnelleren Schwerter und Gnaden sowie der Gerechtigkeiten, die zu jener Zeit am zahlreichsten waren, allesamt Truppentransporter wie ich. Die ältesten von uns waren fast dreitausend Jahre alt. Wir kannten uns schon sehr lange, und inzwischen gab es unter uns nicht mehr viel zu sagen, was nicht schon oft gesagt worden wäre. Von Routine-Mitteilungen abgesehen herrschte zwischen uns im Großen und Ganzen eher ein kameradschaftliches Schweigen.