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»Das ist ein weiterer Grund, warum ich Sie vorziehe«, sagte die Oberpriesterin.

Ich folgte Leutnantin Awn nach Hause. Und beobachtete das Innere des Tempels und überwachte die Leute, die wie immer den Platz überquerten und dabei den Kindern auswichen, die in der Mitte Kau spielten und den Ball schreiend und lachend hin und her kickten. Am Ufer des Vortempelteichs saß eine Jugendliche aus der Oberstadt mürrisch und apathisch da und schaute einem halben Dutzend kleiner Kinder zu, wie sie von Stein zu Stein hüpften und sangen:

Eins, zwei, meine Tante erzählte mir Drei, vier, von dem Leichensoldatending Fünf, sechs, das dir ins Auge schießt Sieben, acht, und dich töten wird Neun, zehn, zerreiß es und flick’s wieder zusammen.

Unterwegs auf den Straßen grüßten mich die Leute, und ich grüßte zurück. Leutnantin Awn war angespannt und verärgert und nickte den im Vorbeigehen grüßenden Passanten nur abwesend zu.

Die Person, die sich über die Fischereirechte beschwert hatte, ging unbefriedigt. Zwei Kinder kamen hinter der Trennwand hervor, nachdem sie gegangen war, und hockten sich im Schneidersitz auf das Kissen, das nun frei geworden war. Beide trugen lange saubere, aber verblichene Stoffbahnen um die Taille gewickelt, jedoch keine Handschuhe. Die Ältere war etwa neun, und die leicht verwischten Symbole auf Brust und Schultern der Jüngeren deuteten an, dass sie kaum älter als sechs sein konnte. Sie sah mich stirnrunzelnd an.

Auf Orsianisch war es leichter, Kinder korrekt anzusprechen als Erwachsene. Man benutzte eine einfache geschlechtsneutrale Form. »Hallo, ihr Bürger«, sagte ich im einheimischen Dialekt. Ich kannte sie beide — sie wohnten am südlichen Rand von Ors, und ich hatte mich schon des Öfteren mit ihnen unterhalten, aber sie waren bisher noch nie ins Haus gekommen. »Was kann ich für euch tun?«

»Du bist nicht Eins Esk«, sagte die Kleinere, während die Größere eine unwirsche Geste machte, wie um sie zum Schweigen zu bringen.

»Doch, ich bin es«, sagte ich und zeigte auf das Abzeichen an meiner Uniformjacke. »Seht ihr? Nur dass dies mein Segment Nummer Vierzehn ist.«

»Hab ich doch gesagt!«, unterstrich die Ältere.

Die Jüngere überlegte kurz und sagte dann: »Ich habe ein Lied.« Ich wartete schweigend, während sie tief einatmete, als wollte sie sofort loslegen, um plötzlich leicht verwirrt innezuhalten. »Willst du es hören?«, fragte sie dann, als würde sie immer noch an meiner Identität zweifeln.

»Ja, Bürger«, sagte ich. Ich — das heißt, ich, Eins Esk — hatte anfangs zum Vergnügen einer meiner Leutnantinnen gesungen, als die Gerechtigkeit der Torren kaum die ersten hundert Jahre im Einsatz gewesen war. Sie mochte Musik und hatte im Rahmen ihres Freigepäcks ein Instrument mitgebracht. Da sie keine der anderen Leutnantinnen für ihr Hobby gewinnen konnte, brachte sie mir die Lieder bei, die sie spielte. Ich speicherte sie und suchte immer neue, um sie zu erfreuen. Als sie zur Kapitänin ihres eigenen Schiffs ernannt wurde, hatte ich eine große Sammlung von Vokalmusik zusammengetragen — mir würde nie jemand ein Instrument geben, aber ich konnte jederzeit singen —, und es ging durch die Gerüchteküche und wurde nachsichtig belächelt, dass die Gerechtigkeit der Torren eine Vorliebe für Gesang hatte. Das stimmte so nicht, denn ich — ich, die Gerechtigkeit der Torren — duldete diese Gewohnheit nur, weil sie harmlos und es durchaus möglich war, dass eine meiner Kapitäninnen Gefallen daran finden könnte. Andernfalls wäre es unterbunden worden.

Hätten mich diese Kinder auf der Straße angesprochen, wären sie weniger zurückhaltend gewesen, aber hier im Haus, wo sie wie zu einem offiziellen Gespräch dasaßen, war es anders. Und ich vermutete, dass hinter diesem Besuch eine Absicht steckte und das jüngere Kind am Ende darum bitten würde, im behelfsmäßigen Tempel des Hauses dienen zu dürfen — die Ernennung zur Blumenträgerin für Amaat stand hier in der Hochburg der Ikkt hoch im Ansehen, und die üblichen Gaben von Obst und Kleidern am Ende ihrer Dienstzeit lockten noch viel mehr. Außerdem war die beste Freundin des Kindes derzeit Blumenträgerin, was das Ganze noch viel interessanter machte.

Keine Orsai würde eine solche Bitte sofort oder direkt vorbringen, weshalb das Kind wahrscheinlich diesen indirekten Weg gewählt hatte, um bei einem zwanglosen Treffen etwas einschüchternd Formelles zu besprechen. Ich griff in meine Jackentasche, holte eine Handvoll Bonbons heraus und legte sie zwischen uns auf den Boden.

Das kleine Mädchen machte eine zustimmende Geste, als hätte ich ihr damit alle Zweifel genommen, dann atmete sie ein und begann.

Mein Herz ist ein Fisch Der sich im Wassergras verbirgt Im Grün, im Grün.

Die Melodie war eine seltsame Mischung aus einem Lied der Radchaai, das oft gesendet wurde, und einem aus Ors, das ich bereits kannte. Aber die Worte waren mir neu. Das Mädchen sang vier Strophen mit klarer, leicht bebender Stimme und wollte gerade zur fünften anheben, doch dann hörte sie abrupt auf, als vor der Trennwand Leutnantin Awns Schritte zu vernehmen waren.

Das kleine Mädchen beugte sich vor und griff nach der Belohnung. Die beiden Kinder verneigten sich halb im Sitzen, standen auf und rannten durch den Zugang hinaus in den größeren Teil des Hauses, an Leutnantin Awn und an mir vorbei, die nun Leutnantin Awn folgte.

»Danke, Bürger«, rief Leutnantin Awn ihnen nach. Sie erschraken, doch dann gelang es den beiden mit einer einzigen Bewegung, sich in ihre Richtung zu verneigen und auf die Straße hinauszulaufen.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte Leutnantin Awn, die sich wie die meisten nicht besonders für Musik interessierte.

»Gewissermaßen«, sagte ich. Ich sah die beiden Kinder weiter hinten auf der Straße, wie sie gerade um die Ecke eines anderen Hauses rannten. Sie wurden langsamer und hielten schwer atmend an. Das kleine Mädchen öffnete die Faust, um der Älteren die Hand voller Bonbons zu zeigen. Erstaunlicherweise hatte sie kein einziges fallen lassen, trotz der kleinen Hand und der übereilten Flucht. Das ältere Mädchen nahm ein Bonbon und schob es sich in den Mund.

Vor fünf Jahren, bevor mit den Reparaturen an der Infrastruktur des Planeten begonnen worden war, als Lieferungen noch unzuverlässig waren, hätte ich etwas Nahrhafteres angeboten. Jetzt wurde jeder Bürgerin zwar ausreichend zu essen garantiert, aber die Rationen waren nicht üppig und des Öfteren unappetitlich.

Im Innern des Tempels herrschte grün beleuchtete Stille. Die Oberpriesterin kam nicht hinter den Abschirmungen der Tempelresidenz hervor, obwohl Juniorpriesterinnen kamen und gingen. Leutnantin Awn ging in die zweite Etage ihres Hauses und setzte sich nachdenklich auf ein Kissen, wie es für Ors typisch war. Von der Straße abgeschirmt, hatte sie ihr Hemd abgeworfen. Sie lehnte den (echten) Tee ab, den ich ihr brachte. Ich übermittelte ihr und der Gerechtigkeit der Torren kontinuierlich Informationen — es war alles im grünen Bereich. »Sie sollte damit zur Distriktmagistratin gehen«, sagte Leutnantin Awn leicht gereizt über die Bürgerin mit dem Fischereikonflikt, während sie mit geschlossenen Augen die Berichte des Nachmittags im Blickfeld hatte. »Dafür sind wir nicht zuständig.« Ich antwortete nicht. Es war weder eine Antwort erforderlich noch wurde eine erwartet. Mit einem schnellen Fingerzucken akzeptierte sie die Nachricht, die ich für die Distriktmagistratin zusammengestellt hatte, und öffnete dann die allerneueste Nachricht von ihrer jungen Schwester. Leutnantin Awn schickte einen Teil ihres Einkommens zu ihren Eltern nach Hause, die davon ihrem jüngeren Kind den Unterricht in Dichtkunst finanzierten. Die Dichtkunst war eine wertvolle Errungenschaft der Zivilisation. Ich konnte nicht beurteilen, ob Leutnantin Awns Schwester besonders begabt war, aber das waren auch in besseren Familien ohnehin nur wenige. Jedenfalls erfreuten ihre Arbeit und ihre Briefe Leutnantin Awn und linderten ihren gegenwärtigen Kummer.