Выбрать главу

Andererseits konnte sie Peter natürlich verstehen. Für ihn mußte die Situation zehnmal neuer und aufregender sein als für Stefan und sie. Wahrscheinlich war er bis ins Mark verstört und eingeschüchtert, und wahrscheinlich hatte er vor nichts mehr Angst als davor, daß sich alles nur als sehr kurzer Traum herausstellen würde, dem ein um so brutaleres Erwachen folgte. Nein - sie akzeptierte, daß er mit seiner Tochter allein sein wollte. Auch für ihn war sie fast eine Fremde, nachdem er sie fünfzehn Jahre lang nur alle paar Wochen einmal hatte sehen dürfen. Er konnte nicht einfach hierherkommen, sich mit ihr an den Tisch setzen und zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts geschehen. Negatives Feedback... Liz schauderte ein bißchen. Sie hoffte inständig, daß Stefan sich täuschte...

Es wurde dunkel, bis sie fertig waren und Liz den Tisch abzuräumen begann. Ihre Müdigkeit machte sich wieder stärker bemerkbar: ihre rechte Hand schmerzte, trotz des guten Essens war ein permanenter schlechter Geschmack in ihrem Mund, und sie merkte selbst, daß sie nach saurem Schweiß roch. Und plötzlich wollte sie nichts mehr, nur ins Bett und sechsunddreißig Stunden durch schlafen.

Oder besser gleich zweiundsiebzig.

29.

Es war die Nacht, in der es wirklich begann, aber das wußte sie natürlich jetzt noch nicht. Trotz allem fiel es ihr schwer, einzuschlafen. Stefan - aber sonderbar erweise schockierte sie dies kaum noch, ja, es war sogar fast, als hätte sie es erwartet - war taktlos genug, mit ihr schlafen zu wollen, gab seine Bemühungen aber nach kurzer Zeit auf, als sie nicht reagierte, und drehte sich beleidigt zur Wand. Natürlich waren es in Wahrheit dann wohl nur noch Minuten, die sie sich ruhelos her umwälzte und abwechselnd gegen die Decke und die Wand neben dem Fenster starrte, bis sie schließlich doch einschlief, aber Liz kamen diese Minuten vor wie Stunden.

Und fast ebenso natürlich kam der Alptraum, kaum daß sie eingeschlafen war. Sie war wieder im Wald, dem gleichen Wald, durch den sie wie von Furien gehetzt gefahren war, dem gleichen Wald, in dem der Mitternachtssee lag und das Moor (Moor?) und das DING, das im Wasser und gleichzeitig auch in ihr lebte. Sie rannte, aber zumindest in dieser Beziehung war es ein ganz normaler Alptraum, denn sie rannte so schnell, daß sie Mühe hatte, ihre Bewegungen noch zu koordinieren, aber sie kam nichtsdestotrotz nicht von der Stelle: rings um sie herum war Wald, dichter, kompakter Wald, wie die Wände eines Tunnels, durch den sie hetzte, und trotzdem hatte es etwas vom Laufen auf einem Fließband an sich, denn der Boden schien so schnell unter ihr hinwegzugleiten, wie sie darauf lief. Dann begriff sie, daß es doch kein normaler Traum war, sondern die direkte Fortsetzung des Traumes aus der vergangenen Nacht, in dem sie schon einmal hier gewesen war. Indem sie das Ohlsberg-Ding getroffen hatte, diese Kreatur aus Pflanzen und Wurzelwerk, die mit dürren Dornenfingern nach ihr gegriffen hatte. Die Erinnerung ließ sie erscheinen. Nebel - vielleicht auch irgend etwas anderes? - ballte sich vor ihr auf dem Weg zusammen, sehr schnell und sonderbar undramatisch, und dann stand sie ihm gegenüber.

Es war Ohlsberg, und gleichzeitig war es etwas unsagbar Fremdes, Böses, anderes, wie in der vorangegangenen Nacht ein Ohlsberg, der aus Lehm und Schmutz und halb verfaulten Pflanzen teilen bestand. Aber sie konnte ihn jetzt deutlich ersehen, denn obwohl er mit beinahe dergleichen Geschwindigkeit vor ihr zurückwich, mit der sie rannte, kam er doch ganz langsam näher. Vielleicht glitt er auch einfach auf sie zu, und sie rannte wirklich, ohne von der Stelle zu kommen, wer wollte die verrückte Logik dieses Traumes schon deuten oder gar verstehen? Gleich wie, sie konnte ihn deutlicher erkennen, in allen entsetzlichen Einzelheiten. Es war doch nicht Ohlsberg, sondern das Ding, das ihn nachzuahmen versuchte, so perfekt wie möglich, aber eben doch nicht ganz genau: Sein Gesicht und seine Hände bestanden aus fleischfarbenem Morast, der jedoch eine weit flüssigere Konsistenz als menschliche Haut hatte, denn er floß und wabbelte hin und her, als wäre es nur ein dünnes Häutchen, unter dem sich Käfer oder Maden bewegten, seine Augen waren glänzende rote Beeren in der Farbe halb geronnenen Blutes, die trotzdem sehen konnten, seine Finger - er hatte mindestens ein Dutzend an jeder Hand - dürre abgestorbene Äste, die leise knisterten, wenn er sie bewegte, der Mund ein lippenloser Schlitz, hinter dem weder Zähne noch Zunge waren, sondern nur eine amorphe feuchte Masse, wie das Innere einer verfaulten Frucht. Sie wollte stehen bleiben und schreien, aber auch das konnte sie nicht, sie mußte sich bewegen, weiterlaufen auf das gräßliche Pflanzen-Ding zu, das Ohlsbergs Aussehen angenommen hatte (oder war es umgekehrt?) und jetzt die Arme ausbreitete, wie um sie zu umarmen. Sie würde sterben, wenn er es tat. Unter seiner Jacke - auch sie bestand aus haardünnen glitzernden Wurzeln, wie sie jetzt sah - bewegte sich etwas, ein formloser Klumpen, der hin und her kroch, und die gleichen formlosen Etwasse krochen unter seiner Hose entlang, glitten seine Beine hinab und verschwanden im Boden, denn sie sah jetzt auch, daß er keine Füße hatte, sondern direkt auf dem sumpfigen Untergrund her anwuchs.

Dann öffnete sich der Mund der Kreatur, aber wie in der Nacht zuvor kamen keine Worte heraus, sondern erneut dieses entsetzliche Geräusch, ein grauenhaftes, feuchtes Blubbern und Würgen, ein Laut wie von etwas Großem, Nassem, das sich durch halb erstarrten Morast bewegte, ein Gurgeln, als ersticke er an seinem eigenen Blut, und dann mischte sich ein schriller Ton in seine Un-Sprache, ein rhythmisches, fast schmerzhaftes helles Kreischen, nein, ein Schrillen, das so vollkommen fremd und anders war, daß sie davon erwachte.

Zweierlei geschah, dessen sie sich mit fast schmerzhafter Deutlichkeit bewußt war: Der Traum hatte sie aus gespien; sie war nicht einfach erwacht, sondern regelrecht hinaus katapultiert worden. Indem nicht existierenden Boden ihrer kleinen selbstgemachten Privat-Hölle hatte sich eine Klappe geöffnet, und sie war zurückgestürzt in die Wirklichkeit, die vielleicht nicht viel weniger schlimm als der Traum war. Sie war wirklich aus dem Traum her ausgefallen, glaubte sogar noch das leise Zittern des Bettes unter sich zu spüren, das den Sturz aufgefangen hatte. Das zweite war, daß sie geschrien hatte, so laut, daß ihre Kehle davon schmerzte. Verstört, zitternd vor Angst und mit rasendem Herzen, richtete sie sich auf die Ellenbogen hoch und sah sich um. Das Zimmer war dunkel, aber irgend woher nahm sie die absolute Gewißheit, daß sie noch nicht sehr lange geschlafen hatte; keine Stunde. Trotzdem lastete Schwärze wie eine materielose Decke auf ihr. Ihr Laken war feucht vor Schweiß, und ihre Beine fühlten sich von den Füßen abwärts klamm und kalt an.

Sie drehte den Kopf. Seltsam - Stefan schlief neben ihr wie ein Murmeltier. Im Schlaf hatte er sich wieder zu ihr herumgedreht, sie konnte sein Gesicht sehen, und der entspannte Ausdruck darauf und seine ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge verrieten ihr, daß er sehr tief schlief. Ihre Schreie - verdammt noch mal, sie wußte, daß sie gellend geschrien hatte! - hatten ihn nicht geweckt, ja, sie waren nicht einmal in seinen Schlaf gedrungen. Das Telefon schrillte.

Es dauerte einen Moment, bis Liz das Geräusch als das identifizierte, was es war. Im allerersten Augenblick war sie felsenfest davon überzeugt, daß der Irrsinn weiterging, daß das Ohlsberg-Ding die Tür zwischen den Welten aufgestoßen hatte und sie verfolgte, gleich aus den Schatten am Fußende des Bettes treten und seine dreizehn fingrigen Hände nach ihr aus stecken würde. Dann brach der Laut ab, einen Moment lang herrschte eine tiefe, mörderische Stille, und dann erscholl das Schrillen erneut; Liz erkannte es als das Lamentieren des Telefons.