Выбрать главу

«Du solltest Schluss machen«, sagte Tom zu Marc, als sie gegangen war.

«Vielleicht«, sagte Marc.

«Sie liebt dich. «Soweit Tom sich erinnerte, hatte er so etwas noch nie gesagt. Sie liebt dich. Er klang wie Melanie, die herzensgute Frau von Ashley Wilkes, auf dem Sterbebett. Seine Mutter hatte diesen Film weinend jedes Jahr zu Weihnachten gesehen — als Kind hatte Tom lang geglaubt, Weihnachten käme von» weinen«— und er erinnerte sich jetzt an jene Szene, da das blonde Persönchen nur noch Augen war und sonst nichts, da sich ihr weißer, anämischer, todgeweihter Körper schon aufgelöst zu haben schien:»Sei gut zu Captain Butler. Er liebt dich so sehr.«

Marc strich sich die Haare aus dem Gesicht und sah durchs Fenster in den Hof hinaus, auf die dunklen Mauern der Häuser.

«Wenn Städte eine Farbe haben, dann hat Berlin diese hier«, sagte er und deutete mit dem Kinn in Richtung Fenster.

«Was ist das, Graubraun?«

«Berlingrau«, sagte Marc. Mit dem durchgedrückten Zeigefinger fuhr er eine Kerbe auf dem Tisch nach.»Vielleicht liebe ich sie ja auch«, sagte er und hob die Schultern.

«Dann mach nicht Schluss«, sagte Tom.

«Dann mach nicht Schluss«, wiederholte Marc langsam, als handelte es sich um ein Kochrezept, das er sich einprägen müsste.

Es wurde Herbst, und Vogelscharen zogen in dunklen V-Formationen über den Himmel, Bäume lagen schräg im Wind. Marc komponierte tagsüber viel, Tom spielte Klavier, nachts machten sie im Probenraum Musik und vergaßen die Zeit, mittwochs pilgerten sie nach wie vor zu Breitenbach, der inzwischen abstritt, jemals über die Liebe gesprochen zu haben. Eigentlich sei es nicht, nie, um die Liebe gegangen, behauptete er. Die Liebe sei höchstens eine Chiffre, eine Metapher für das Streben alles Seienden. Alles nämlich sei getrieben vom Streben, der Stein, die Pflanze, das Tier und auch der Mensch. Thomas von Aquin nannte dies Liebe, Schopenhauer Wille, es kam auf die Perspektive an: Für Thomas führe es zu Gott, für Schopenhauer aber ins ziellose, blinde, um sich selbst kreisende Werden, das es zu überwinden gelte. In diesem Sinn legte Tom im November Frau Hermanns nahe, sich einen anderen Klavierlehrer zu suchen, bereute es aber sofort, was sich durch ein dumpfes Schmerzgefühl in seinem Oberbauch bemerkbar machte, und nach zweiwöchiger Pause, über die niemand je ein Wort verlor, ging er donnerstags wieder zu ihr. Währenddessen wurde es insgeheim Winter, Tag und Nacht unterschieden sich kaum noch, Grau wurde zu Schwarz, dann, in der Morgendämmerung, wenn das Jazztrio Holler, Baldur, Zadera aus dem Probenraum auf die Straße hinaustrat, wieder zu Grau.

Einmal, als sie im fahlen Licht gegen den Wind nach Hause liefen, sagte Marc, ohne Tom anzusehen:»Heute ist der 23. Januar. Der Geburtstag meines Vaters. Es ist immer Scheißwetter an dem Tag, soweit ich zurückdenken kann, war Scheißwetter. «Automatisch senkte Tom den Kopf bei diesem Thema. Aber Marc sah ihn nicht an, während er weiterredete:»Als er noch gelebt hat, habe ich seinen Geburtstag mal vergessen. Er hat gesagt, es macht ihm nichts aus, aber ich wusste, dass er enttäuscht war. Seit er tot ist, denke ich immer dran. Schon Wochen vorher, wenn es Winter wird, denke ich an seinen Scheißgeburtstag, komisch. Ich glaube, ich habe ihm nie verziehen, dass er gestorben ist.«

Tom sah ihn an, er wollte fragen, was er damit meinte.»Verzeihen «schien ihm die falsche Wortwahl im Hinblick auf den Tod. Aber er sah, wie fest Marc seinen Mund zusammengepresst hielt, wie die Muskeln seines Kiefers sich spannten, als er unter dem Licht einer Straßenlaterne hindurchging und die Helligkeit über sein Gesicht strich.»Ich wollte ihn noch so vieles fragen«, sagte er.»Ich habe das Gefühl, dass nur er bestimmte Dinge weiß, über mich, über uns. Es ist, als ob die eigene Vergangenheit plötzlich fehlt.«

«Man muss es sich zusammenreimen«, sagte Tom.

Marc sah ihn fragend an.

«Die eigene Geschichte. Man muss sie sich selbst zusammenreimen.«

Marc lächelte seltsam, dünn.»Manchmal überlege ich, ob die Sachen, an die wir uns nicht mehr erinnern, noch irgendwo gespeichert sind, in einem universalen Fotoalbum oder so, der Augenblick, in dem wir das erste Mal auf eigenen Beinen gelaufen sind, als wir das erste Mal Musik gehört haben, was weiß ich, eine Katze gestreichelt haben, all die Sachen, die wahrscheinlich passiert sind, aber an die sich niemand mehr erinnert. Dass wir jetzt hier durch die Nacht laufen. Wahrscheinlich sind wir deshalb befreundet. «Er lachte.»Weil wir beide so ein verdammt schlechtes Gedächtnis haben. Wir brauchen uns, weil wir uns nichts merken können.«

«Du hast ein schlechtes Gedächtnis, ich nicht!«, berichtigte Tom.

«Umso besser«, sagte Marc. Er legte seinen Arm um Toms Schulter, wie er es manchmal tat.»Dann wirst du mich an alles erinnern, denn dafür sind Freunde da. Alles, was wir vergessen, ist weg, aber wenn wir zu zweit sind, erinnern wir uns an doppelt so viel. Wir haben doppelt so viel Leben.«

Sie überquerten die Danziger Straße und bogen in die Knaackstraße ein. Schweigend gingen sie weiter, es schneite, und die weißen Flocken leuchteten im Licht der Autoscheinwerfer. Gelbliche Kegel voll wirbelnden Schnees.

DIE FREUNDIN

Später dachte er oft, dass ihre Bekanntschaft mit einem Missverständnis begonnen hatte, und dieses, auch wenn es bald ausgeräumt worden war, schien ihm doch das bestimmende Vorzeichen dieser eigenartigen Freundschaftsbeziehung mit Betty Morgenthal geblieben zu sein, wie ein Kreuz in der Partitur eines schlampigen Komponisten, dessen Auflösung einfach vergessen worden ist.

Es war kalt, aber auch schön, aber auch stürmisch, als sie sich begegneten. Wolkenfetzen flatterten wie lose Papiere am hellen, unaufgeräumten Himmel.

«Raffi!«Eine fremde Stimme wehte über die hohe Hecke auf den Bürgersteig herüber, wo er, der Klavierlehrer, mit der Notentasche unter dem Arm, an einem Donnerstag im März auf das gusseiserne Gartentor der Hermanns’ zustrebte, tief in Gedanken, während ihm die Villen hinter den Gärten hinter den Zäunen mit den großen Augen ihrer in der Sonne blinkenden Fensterscheiben forschend nachblickten, ob er sich auch ordentlich angezogen, ob er auch die Fingernägel ausgekratzt habe.

«Raffael!«Die Stimme, die seine Gedanken jäh durchkreuzte, sang. Sie beschrieb eine dramatische, nach unten stürzende Oktav, wie in einem Opernrezitativ. Sofort dachte er an Patrizia, die Tochter, die aus ihrem New Yorker Kunstkeller an den heimischen Tisch zurückgekehrt sein und aber der schönen Mama ganz bestimmt keine Liebesaffäre mit ihrem Klavierlehrer zugestehen würde, und in gleichem Maß, wie er sich für die Geliebte freute, die über die Heimkehr des verlorenen Kindes sicher beglückt wäre, ärgerte er sich für sich selbst. Er ging durch das Gartentor. Er freute sich, befahl sich die Freude. Die Vernunft schien mitfühlender zu sein als das Gefühl. Er ging über den gebogenen Kiesweg durchs fahle Grün des Rasens und sah von weitem ihren unförmigen Parka, das rostbraune Haar, das auf dem Foto aber blond war, wie das der Mutter. Einige Strähnen hatten sich im Gestrüpp verheddert, standen fast senkrecht nach oben. Aus dem Busch drangen aufgeregte Kratzgeräusche, Bellen, Knurren.

«Hallo«, sagte Tom in ihren Rücken. Erfreut, aber nicht zu sehr.