«Hallo«, sagte auch sie und drehte sich um.»Ich hab dich gar nicht kommen hören. «Sie nestelte und zog an dem Zweig, in dem ihre Haare hingen.»Raffi ist da drin. Er ist schon seit zehn Minuten da drin und gräbt irgendwas aus«, sagte sie und blickte sorgenvoll in Richtung Busch, wo es raschelte und Zweige wedelten. Ihre Haarsträhne, die nun befreit war, hatte sich zu einem struppigen Knötchen verschlungen, das sie mehrere Male vergeblich zurückstrich. Ihr Gesicht war schmal und blass, aber nicht weiß, sondern eher bronzefarben. Erst später bemerkte er, dass es sehr feine Sommersprossen waren, die diesen Eindruck hervorriefen und sich über dem Nasensattel zu einem Schleier verdichteten. Ihr Gesicht, das er nun im Profil sah, versuchte er mit dem Foto auf dem Flügel abzugleichen: gerade Nase, lang, etwas nach innen gebogen, Augenbrauen, bis weit in die Schläfen in einer Spitze schräg zulaufend, kleines, aber entschlossenes Kinn, Wollschal. Er konnte keine Ähnlichkeit feststellen, weder mit dem Foto noch mit den Hermanns-Eltern.
«Tja«, sagte Tom.»Das kann dauern. Ich bin übrigens Tom.«
Sie drehte sich um, offenbar überrascht.
«Ach so, ich dachte … du bist nicht der Sohn?«
«Nein. Ich bin der Klavierlehrer. Und du bist nicht die Tochter, nehme ich an.«
Sie lachte und schüttelte den Kopf, worauf die Haarsträhnen sich hoben, unterstützt von einem Windstoß, der von unten hineinfuhr.»Nein, ich bin Betty. Ich führe die Hunde aus. Ich versuche es zumindest«, sagte sie, strich das Haar aus dem Gesicht und klemmte es hinter ein kleines Ohr.
Als der Klavierlehrer und Liebhaber über die Terrasse zum Haus hinüberging, wusste er, auch weil die gelben Gummihände der Putzfrau von innen über die große Glastür quietschten, dass sich an diesem Tag außer Klavierspielen im Wohnzimmer nichts würde ereignen können. Das Klavierspiel ihrer eng beieinander sitzenden Körper und das Quietschen der Putzfrau würden den Raum erfüllen bis in jede Ecke, so dass für Weiteres überhaupt kein Platz darin wäre. Und so geschah es. Immer kommt alles genau so, wie man es vorhergesehen hat, dachte er, man sieht etwas voraus, und dann tritt es prompt genau so ein, wie man es vorausgesehen hat, zur Strafe dafür, dass man wieder mal so pessimistisch gewesen ist, dachte er, während er die nackten Unterarme seiner Schülerin betrachtete, die leicht über den Tasten schwebten.
«Thomas«, sagte sie, als sie nach der Stunde ihm voran über den Flur schritt. Sofort spannte er sich, drang mit seinem Blick in den Kragen ihrer Bluse.»Thomas«, wiederholte sie. Dann aber schwieg sie, stellte sich aufrecht hin vor der Eingangstür, wie um ihm den Weg abzusperren, und klimperte mit den Fingern auf den vor der Brust gefalteten Oberarmen. Plötzlich lachte sie, indem sie den Kopf von einer Seite zur andern warf. Ein lustiger Sachverhalt schien ihr in diesem Moment zuzufallen, in ihrem Kopf herumzufallen.»Manchmal denke ich«, sagte sie, in tiefem Ernst plötzlich,»dass wir nur in der Musik lebendig sind. Dass wir nur in dem leben, was nicht die Wirklichkeit ist.«
Tom wollte etwas entgegnen, ohne noch zu wissen, was es im Einzelnen sein könnte, aber da war sie schon nah an ihn herangetreten, hatte die Hände in seinem Nacken übereinandergelegt, um ihn zu küssen, was er nicht vorausgesehen hatte, weil es ganz unbemerkt aus der Zukunft ihm entgegengekommen und plötzlich da gewesen war, dieses Küssen an der Tür, das so noch nie stattgefunden hatte. Ihr Mund, den er viel zu lang entbehrt hatte, schmeckte weich, ihre Zunge schlang sich um seine, ihr Parfum drängte ihm entgegen, ihre Brüste, und hart spürte er ihren Hüftknochen. Draußen Hundegebell, das sich näherte, dreifach, und hüpfende Schritte auf der Terrassentreppe. Unwillig ließen sie einander los, lösten zunächst die Münder, dann erst glitten die Hände am jeweils geliebten Körper hinab, und zögernd streiften sie noch über Hals und Wangen, über den Arm des andern, bevor sie in die Hosentasche versenkt oder auf dem Rücken fest übereinandergelegt wurden. Zum ersten Mal waren sie Komplizen.
Als es klingelte und die Tür geöffnet wurde und Betty Morgenthal eintrat, um Leinen und Hunde abzuliefern, war ihnen nichts anzumerken. Zu dritt standen sie in der Eingangshalle, froh über die Tiere, die eine gewisse Unverfänglichkeit herstellten, weil verlegene Blicke bei ihnen gut aufgehoben waren. Einer entwischte jedoch und sprang wie ein Tischtennisball zwischen Klavierschülerin und Klavierlehrer hin und zurück, bevor er endlich wieder auf Raffi hinabfiel, der einen Stofffetzen im Maul trug, worüber man sich kurz unterhielt. Im Gestrüpp habe er ihn langwierig ausgegraben und gebe ihn nicht mehr her, erklärte Betty. Ein schmieriges, braunes Stück Stoff, das Anne Hermanns erst nach eingehender Analyse als den Kaschmirschal identifizieren konnte, den sie ihrem Mann einst zu Weihnachten geschenkt hatte. Sie lachte seufzend. Dann wurde es still. Man hätte die Stille in Scheiben schneiden und auf ein Brot legen können, bevor fast gleichzeitig, nur leicht versetzt, Betty Morgenthal und Anne Hermanns» tja, also dann«sagten. Etwas zu laut, etwas zu grell und nackt standen die Worte in der weiten leeren Akustik der Eingangshalle. Tom aber schwieg, zog mit seinem Blick eine Linie zwischen den beiden Frauen, die, wie ihm auffiel, genau gleich groß waren.
«Tja dann«, sagte Betty noch einmal, etwas leiser und tastete in ihrem Rücken nach der Türklinke.
«Sie müssen entschuldigen«, sagte Frau Hermanns. Sie sagte es langsam, wie zu einer Wand.»Ich sollte eigentlich schon seit fünf Minuten …«, sagte sie und zeigte mit einer halben Geste auf die schmale Armbanduhr an ihrem Handgelenk, doch ihr Gesicht hatte keinerlei Ausdruck.»Sie müssen wirklich entschuldigen«, wiederholte sie.
Kein Blick begleitete ihn, als er neben der Unbekannten langsam die Stufen hinabstieg.
Da sie, wie sich herausstellte, in dieselbe Richtung mussten und Bettys Bianchi-Rennrad einen Platten hatte, gingen sie ein Stück zusammen. Tom, während er äußerlich neben Betty Morgenthal herging, ging innerlich nochmals die Ereignisse der letzten Minuten durch. Er wusste nicht, weshalb, hatte aber das vage Gefühl, ihr den unerwarteten Abschiedskuss zu verdanken, was er sich selbst nicht erklären konnte. Er begann ein unverbindliches Gespräch, indem er sie fragte, wie sie dazu gekommen sei, die Hermannshunde auszuführen.
«Ich hab einen Aushang gesehen«, sagte sie. Ihre Hand ließ sie über die Stäbe eines dunkelgrünen Gartenzauns gleiten, was ein ratterndes Geräusch verursachte.
«Wo denn?«, sagte er.
«An meiner Hochschule, Hanns Eisler«, sagte sie.
«Dann bist du Sängerin?«, riet Tom, und Betty schien sich etwas zu wundern, bevor sie bejahte. Wie er darauf käme? Wie sie den Hund gerufen habe, erklärte er, ihr Sopran, und er selber habe den Zettel aufgehängt, sei auch an der Hanns Eisler, und kurz redeten sie über die Hochschule und den Zufall, dass sie sich dort noch gar nicht gesehen hatten, oder vielleicht doch, aber unbewusst.
Ihre Hand streifte über die Zäune und Hecken, die sie passierten. Der riesige Parka, der auf Höhe der Knie abstand, ließ nicht erahnen, ob sich darunter so etwas wie eine Figur eigentlich befand. Das Fahrrad lief zwischen ihnen.
«Ich studiere Klavier«, ergänzte Tom den kleinen Dialog, der vom Frühlingswind verweht zu werden drohte.
«Hab ich mir fast gedacht«, sagte Betty,»wenn du Klavierlehrer bist. «Sie lächelte ihn an, und eine Ader trat senkrecht auf ihrer Stirn hervor. Die Augen aber hielten sich an einer bestimmten Stelle in seinem Gesicht auf, als entdeckten sie da ein Zeichen oder als wäre seine Haut durchsichtig dort.
Wie sie dazu komme, hier draußen Hunde auszuführen, fragte er, etwas verunsichert aufgrund ihres Blicks.»Ist das nicht ein bisschen weit für dich, wenn du im Osten studierst?«
Sie wohne in Kreuzberg, außerdem sei sie sowieso manchmal hier an der Uni, wo sie sich ab und an ein paar Vorlesungen anhöre. Betty sah jetzt auf ihren Fahrradlenker hinab, der unter einem Sonnenstrahl aufblinkte, dann verlosch.