Betty nickte und sah ebenfalls dem Vogel hinterher. Er schnellte in die Luft hinauf und glitt in hohem Bogen über eine Mauer in einen der Gärten hinein, während Tom den viereckigen Puppengarten seiner Eltern überdachte, dessen Bäume und Büsche immer gleich waren, weil seine Mutter es nicht leiden konnte, wenn die Zeit verging. Alle Blumen und Sträucher blieben, wie sie waren, weil die Heckenschere der Mutter keinen Fortschritt erduldete. Sogar die Unkräuter, die nicht da waren und täglich aus den Ritzen der Terrassenplatten herausgestochert wurden, und der Rasen, der zwischen den kargen Blumenbeeten lag wie aus grünem Kunststoff, blieben tagaus, tagein gleich, weil die Zeit, wenn sie schon da sein musste, gefälligst stehen bleiben sollte, genau wie die innere Zeit in ihnen, so sollte auch die äußere Zeit stehen bleiben, welche sich, geböte man nicht Einhalt mit Unkrautvernichtungsmittel und Heckenschere, umgehend in einem aufdringlichen Pflanzenwachstum und — welktum zu manifestieren drohte. In Toms Hals kitzelte es. Er musste lachen.
Warum er lache, fragte Betty.
Weil es dennoch witzig gewesen sei zu Hause, sagte er. Die Eltern seien im Dorf aufgrund des Kindstods so etwas wie Märtyrer gewesen.»Sie haben«, sagte er,»immer alles geschenkt bekommen. Kirschen im Sommer, Weihnachtsplätzchen im Winter, immer Kartoffeln oder irgendwelche Styroporkisten mit Bocksbeuteln drin, die sie im Keller aufgestapelt haben. Dann gab es die Geburtstage von Michi. Da wurden Blumen und Kerzen aufgestellt im ganzen Haus, und Nachbarn kamen und die Verwandten, und es gab Kaffee und Kuchen. Meine Mutter ist immer regelrecht aufgeblüht, sie hat gebacken und gekocht, tagelang. Und wenn es vorbei war, hat sie sich aufs Sofa gesetzt und ist tagelang da sitzen geblieben. Irgendwann ist sie aufgestanden und hat aufgeräumt, denn sie räumt gern auf. Sie räumt auch da auf, wo niemand aufräumt, in Schuhputzschubladen oder in Abstellkammern. «Tom lächelte. Er sprach über seine Eltern, stellte er fest, wie über Kuriositäten aus dem exotischen Tierreich. Sie liebten ihn.
«Und du?«, fragte Betty.
«Ob ich gern aufräume?«
«Wie es dir mit deinem Bruder ging.«
«Oh, ich mochte ihn. Ich fand es schön, dass er da war. Er hing ja überall rum, als Bild. Als Kind hab ich viel mit ihm geredet. Wir haben über die Eltern gelästert und uns Sachen erzählt, die wir erlebt hatten. Bis das Klavier kam, dann wurde es weniger.«
Wann er angefangen habe, wollte sie wissen, mit dem Klavierspielen, was Tom nicht beantworten konnte. Irgendwann sei das Klavier da gewesen, von seinem Vater angeschleppt, der mit Büromaschinen, Schreib- und Rechenmaschinen handelte und aus der Konkursmasse eines zahlungsunfähigen Kunden ein Klavier herausgezogen habe. Dieses, so Tom, weil man nicht wusste, was anfangen mit einem Klavier, und weil im Wohnzimmer schon der Fernseher stand, habe man in die Dachkammer hinaufgeschleppt, und da diese am weitesten von den Eltern und der Elternbetriebsamkeit entfernt gewesen sei, habe er angefangen, darauf zu spielen. Die Dachkammer sei seine Welt geworden, das Klavier aber deren Mittelpunkt, sagte er.
«Hast du Geschwister?«, fragte er Betty.
Sie schüttelte umgehend den Kopf.»Das heißt doch, natürlich. Eine Schwester. Aber sie ist acht Jahre älter als ich und Rechtsanwältin. Sie hält mich für eine dumme, verzogene Kuh. «Entschuldigend hob sie die Schultern. Die Sonne hinter den Wolken schloss ihr Auge. Es wurde dunkel und kalt. Feine Schneeregenstriche lagen schräg im Wind. Nachdem man schweigend die U-Bahn-Station erreicht hatte, verabschiedete man sich.»Tschüss«, sagte sie.»Tschüss«, sagte er.
An einem Mittwochnachmittag begegneten sie sich in der Cafeteria der Hochschule. Betty saß vor den Fensterscheiben. Regentropfen rannen herunter, schienen durch sie hindurchzufließen. Sie trug einen roten Rollkragenpullover, rührte in einem Kaffee. Tom stellte sein Tablett neben ihres. Die Ecken ihrer Tabletts stießen gegeneinander auf der Enge des Tischchens, sie aber wussten nicht, was zu reden wäre, da hier, so einander gegenüber, an das persönliche Gespräch ihres ersten Aufeinandertreffens nicht anzuknüpfen war und das Wetter, weil indiskutabel, als Thema nicht in Frage kam und auch Smalltalk anderer Art nicht, weil man sich dafür schon viel zu gut kannte. Tom, während er mit seinem Löffel in den Käsekuchen stach, fiel nur der Käsekuchen und wieder der Kuchen ein, kein anderes Gesprächsthema.
«Der Kuchen«, sagte er daher. Wie eigentlich ihr Kuchen denn so schmecke. Sie sagte, dass es so gehe, und höflichkeitshalber wollte sie wissen, wie seiner schmeckte, aber er hatte ja denselben.
«Wir können auch einfach nichts reden«, schlug sie vor und lächelte. Er lächelte auch. Sie aßen schweigend. Die Röte ihres Wollpullovers vor dem Regengrau, dem Tagesgrau. Sie mussten zum Unterricht.
Nachher trafen sie sich im Treppenhaus wieder. Dieses vibrierte von Musik. Übereinandergeschichtete, sich ineinanderfressende Klänge, Töne verschiedenster Instrumente wehten und webten durcheinander, ein Oboenlauf, Klavierglissandi, entfernt eine Soprankoloratur.
«Gehen wir noch ein Stück zusammen?«, fragte Tom, als sie vor der Hochschule im Abend standen, wo der Regen einen frisch gewaschenen, hohen Frühlingshimmel zurückgelassen hatte, rot an den Rändern und sauber wölbte er sich über dem Gendarmenmarkt.
«Fragt sich nur, wohin«, sagte sie.»Du wohnst am Prenzlberg, ich in Kreuzberg, das ist nicht wirklich dieselbe Richtung.«
«Stimmt«, sagte Tom. Aber er habe Zeit, sagte er, sei darüber hinaus Gentleman, also Kreuzberg.
«Und«, sagte er nebensächlich, als sie über das weite weiße Oval des Platzes gingen, ob sie mal wieder die Hunde ausgeführt habe inzwischen? Er spürte, wie Hitze in seine Wangen schoss, und leider sah Betty genau in diesem Augenblick vom Boden auf und zu ihm herüber. Sie lächelte, was die senkrechte Ader hervortreten ließ, die ihre Stirn in zwei Hälften teilte.
«Klar«, sagte sie.»Gestern erst. Ich glaube, sie hat einen Liebhaber. «Sie lächelte. Er auch. Der Lärm der Stadt, das Fahren der Autos, Klappern der Absätze und Reden der Menschen aber hielten inne und verstummten, und fallendes Blütengewirbel der Bäume lag in der Luft, ohne zu Boden zu sinken.
«Meinst du?«, sagte er.
Betty nickte und sah auf das schwebende Weiß. Tom auch. Es wirbelte. Es duftete unter den Bäumen. Es war ihm niemals in den Kopf gekommen, dass es außer ihm (und ihrem Ehemann) jemand Dritten geben könnte. Er finde, zwang er sich zu sagen, die Hermanns’ wirkten recht glücklich. Sie machten einen sogar ziemlich glücklichen Eindruck, wiederholte er. Und dass er sich das eigentlich gar nicht vorstellen … wie sie darauf käme.
«Du bist richtig verknallt in sie, oder?«
Er schwieg.
«Tom, ich weiß Bescheid. Du musst dir keine Mühe geben«, sagte sie, indem sie wieder dieses eigenartige Lächeln im Gesicht herumtrug.»Der Lippenstift auf deiner Wange war echt nicht zu übersehen letztes Mal.«
Er schwieg. Er benötigte eine lange Weile, in der ihm doch nicht langweilig war, um zu verstehen, was im Einzelnen damit gemeint war. Das Verstehen beschäftigte seinen gesamten Organismus, und an ein Weitergehen war nicht zu denken. Er blieb stehen: Ich bin der Liebhaber, dachte er, ich bin es selbst, Idiot!» Tja, wenn du es weißt, dann weißt du es vermutlich«, sagte er, und seine Stimme klang leicht, fast überschwänglich, als freute er sich darüber, endlich eine Mitwisserin zu haben, um dadurch sein Glück zu verdoppeln. Und Betty lächelte weiter. Aber ihr Lächeln wurde merkwürdig dünn, durchsichtig, pergamentartig jetzt, und darunter kam ihr Erstaunen zum Vorschein. Sie staunte über seine Gelassenheit, seine Ehrlichkeit oder über die Tatsache, dass diese ihr allen Wind aus den Segeln nahm, und trotzdem, vielleicht, weil sie es sich schon die ganze Zeit über vorgenommen hatte, sagte sie:»Keine Angst, ich werd es dem Hermanns sicher nicht auf die Nase binden.«