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Tom aber hatte diese Möglichkeit noch gar nicht in Betracht gezogen. Er fragte, ob er sie zum Bier einladen könne. Sie wisse nicht, ob er das könne, sagte sie, was sie offenbar für einen guten Witz hielt, und er musste sogar darüber lachen. Er hätte jetzt über jeden Witz gelacht.

Als sie in einem Dönerladen saßen, wo ein Spielautomat seine Melodien spielte, bestellten sie Bier und Pommes. Betty orderte eine doppelte Portion, was Tom ihr neidete, da er auf seine Figur achten musste. Sie nicht.

Er wolle jetzt von ihr wissen, ob sie beispielsweise einen Freund habe.

Sie sagte, dass sie ihn relativ neugierig finde. Er aber sagte, dass er es nur für gerecht halte, da sie inzwischen alles über ihn, er aber nichts über sie wisse, was ein Ungleichgewicht herstelle in ihrer noch jungen Freundschaft. Der Spielautomat spielte seine Melodien. Zwei offenbar Verliebte traten ein und bestellten Döner. Von hinter der Theke drangen Wärme- und Fleischschwaden herüber, Klappern und das Wetzen eines Messers.

«Also?«, sagte Tom und verschob mit den Fingern den Aschenbecher aus Kunststoff.

«Es geht dich nichts an«, sagte Betty, zudem habe sie es selbst herausgefunden, und so solle er es bitte schön auch selbst herausfinden, wenn er es denn wolle, meinte sie.

«Also gut«, sagte er,»ich weiß es ja längst: Es ist Dr. Volker Hermanns.«

Betty lachte und schüttelte den Kopf. Dann verstummte das Lachen auf ihren Lippen und verlor sich. Es hinterließ ein sorgenvolles nacktes Gesicht, das von Betty hastig mit dem Rauch einer Zigarette verhüllt wurde. Der Rauch entstieg wolkig ihrem Mund, während sie das Streichholz ausschüttelte.

Tom wunderte sich, dass sie als Sängerin rauchte, sagte aber besser nichts dergleichen.

«Also gut«, sagte sie.»Da ist niemand momentan. Ich bin eine einsame Frau und froh darüber. «Unvermittelt stand sie auf, entnahm der Vitrine zwei weitere Radeberger, Zigarette im Mundwinkel, und setzte sich wieder. Der Stuhl kratzte über die Fliesen. Dann berichtete sie knapp, dass ihr Freund in Tübingen Medizin studiere und nunmehr eigentlich ihr Exfreund sei und übrigens Alex heiße, sie zweimal in Berlin besucht habe, dann nicht mehr, sie hätten telefoniert, viel telefoniert, und irgendwann hätten sie auch das Telefonieren sein lassen. Alex sei traurig darüber, am Boden zerstört, wie man sage. Am zerstörtesten aber seien Bettys Eltern, die inneren Auges bereits seit Jahren die Gemeinschaftspraxis in einem Tübinger Vorort gesehen hätten, mit einer zahlungskräftigen Klientel von Privatpatienten im freundlichen Wartezimmer und einem Sandkasten voll fetter Enkel draußen.

«Verstehe«, sagte Tom.

«Wir waren fünf Jahre zusammen!«, Betty versah die Zahlenangabe mit einem Ausrufezeichen, als wäre es eine Idiotie, fünf Jahre mit jemandem zusammen zu sein.

«Wie lang geht es bei euch schon?«, fragte sie, hielt ihr Bier schräg gegen das Licht, um zu prüfen, wie viel davon noch da war. Tom fühlte sich ernst genommen, denn das» euch «klang nach ordnungsgemäßer Beziehung.

«Eineinhalb Jahre«, sagte er, was nicht lang war und nicht kurz, und doch erschrak er darüber.»Aber es ist nichts«, fuhr er fort.»Es ist mehr oder weniger nur …«, er hüstelte.»Es dreht sich, es geht in erster Linie um Sex.«

Eine Pause entstand. Man schwieg und versenkte die Blicke in der jeweiligen Bierflasche.

«Beziehungen sind immer komisch«, sagte Betty dann leise.

«Ich weiß nicht«, sagte Tom.»Unsere ist schon sehr komisch. Wir reden nicht. Ich weiß nichts über sie. Nur dass sie in diesem riesigen Haus wohnt, dass sie ungezogene Hunde und verschollene Kinder hat. Sie weiß auch nichts von mir. Sie will nichts wissen. Sie vergisst mich, sobald ich weg bin, und wenn ich wiederkomme, ist es jedes Mal, als ob sie mich neu entdeckt.«

«Das klingt schön«, sagte Betty, und sie hob die Schultern an und schob die Bierflasche, die sie in beiden Händen hielt, auf der Tischplatte nach vorn. So blieb sie sitzen, mit langen Armen, und lächelte verträumt zur Flasche hin. Tom seufzte. Auch er betrachtete sein Radeberger und begann, das Etikett in Streifen abzuziehen und zwischen den Fingern zu Kügelchen zu kneten.

«Aber es wäre noch schöner«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durchs Haar,»keine Ahnung, wenn sie tatsächlich an mir interessiert wäre oder so. «Er sah an Betty vorbei in die Ecke des Raums, wo der Fernseher hing.

«Aber sie ist doch an dir interessiert!«

Tom neigte den Kopf, als zöge das Gewicht der Worte, die sie gesprochen hatte, sein Ohr nach unten.

«Wie meinst du das?«

«Es ist doch klar, dass sie interessiert ist.«

«Warum?«

«Sie würde dich sonst wohl kaum mit dem ganzen Lippenstift draußen rumlaufen lassen! Das war ein Zeichen: Der gehört mir, sollte das heißen, lass bitte die Finger davon. Ganz klar. «Betty klimperte nachdrücklich mit den Augendeckeln. Tom musste lachen. Gerne hätte er es geglaubt.

HOTEL MARINA 1

Ungefähr vierzehn Jahre später saß derselbe oder ein ähnlicher Tom Holler, der sich Betty Morgenthal einst anvertraut hatte als einer fachkundigen Führerin durch die dunklen Gefilde der Liebe, mit dem Taschenlampenlicht ihrer weiblichen Weisheit, vierzehn Jahre später also saß derselbe ähnliche Tom Holler in Genua am Klavier, während jene selbe oder ähnliche Betty Morgenthal etwa 700 Kilometer weiter südlich in einem Ausflugslokal hoch über dem Meer, scheinbar gedankenverloren, mit einem filigranen Silberlöffelchen in einem teuren Cappuccino rührte. Er saß am Klavier, vom Meer etwa zwei Kilometer Luftlinie entfernt. Sie saß am Tisch, vom Meer etwa 300 Meter entfernt. Er spielte Musik vor einem andächtigen Publikum. Sie rührte in einem Cappuccino, vor dem nicht weniger andächtigen einköpfigen Publikum ihres jungen Kollegen Carlo Vitelli.

Sie dachten aneinander, und wären ihre Gedanken Möwen gewesen, sie hätten sich bestimmt an irgendeiner Stelle hoch über dem Meer getroffen, hätten sich begrüßt und wären zusammen am Himmel die eine oder andere interessante Figurenformation geflogen.

Tom Holler dachte an eine Stelle an Betty Morgenthals Hals.

Betty Morgenthal dachte, dass sie es letztendlich nur Tom Holler zu verdanken habe, dass sie hier saß, in einem Lokal, in dem die Kellner vornehmer waren als die Gäste. Während sie dies dachte, studierte sie mit dem scheinbar allergrößten Interesse das Innere ihrer Cappuccinotasse und blickte auch dann und wann auf Carlo Vitellis gepflegte und glatte Hand, die wie eine sorgfältig gebügelte, gestärkte und gefaltete Serviette auf dem Tischtuch lag. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf, wandte ihn zur langen Fensterfront.

«Man könnte denken, dass nichts dahinter ist«, sagte Betty leise.

Tom in Genua spielte eine Harmonieverbindung von g-Moll nach H-Dur.

Carlo Vitelli erschrak. Offenbar hatte er nicht mehr damit gerechnet, dass Betty Morgenthal an diesem Abend noch sprechen würde, und sich gewöhnt: an ihren stummen Anblick, die Silhouette ihres abgewandten Gesichts vor dem nächtlichen Panorama.

Tom Holler spielte Triolen in e-Moll.

Was sie meine mit nichts dahinter, fragte er, nachdem er sich geräuspert hatte.

«Vielleicht sind es nur Lichter, keine Schiffe, keine Hafenanlagen, keine Sterne, keine Wohnhäuser. Vielleicht einfach nur Lichter, so wie wir es sehen. Vielleicht ist nichts dahinter«, sagte sie. Schnell schüttelte sie den Kopf, wie um eine störende Haarsträhne oder einen Gedanken zu entfernen.»Ach was. «Sie lachte, aber um einige Halbtöne höher als gewöhnlich, was jemand, der sie besser kannte, sofort bemerkt haben würde, ihr junger Kollege aber nicht. In einer anfangs zögernden, dann sehr raschen Bewegung streckte sie ihre Hand aus und legte sie auf diejenige Vitellis. Sie spürte, wie durch diesen gepflegten Körper neben ihr ein Ruck ging, was sich an einer leisen Bewegung der Hand bemerkbar machte, einem leichten Vibrieren seines Unterarms hinter dem fein karierten Stoff seines Hemdes. Misstrauisch sah sie auf diese beiden Hände hinab wie auf ein Tier, das plötzlich losspringen könnte. An ihrer ihm zugewandten Wange fühlte sie seinen schweren Blick.