Выбрать главу

Sie dachte an Tom. Tom dachte an Betty.

Als der Kellner den Wein servierte, einen 96er Chianti — denn man trank hier Chianti, keineswegs den heimischen Wein, der als ordinär galt —, zog sie ihre Hand zurück und legte sie artig auf das weiße Tischtuch. Die beiden Hände lagen jetzt nebeneinander wie zwei tote Fische.

Zu reden hatten sie nichts. Carlo Vitelli schaute viel, und sie trank. Endlich kam das Essen: Das waren Krebspastetchen zur Vorspeise, Spaghetti mit Muscheln und Dorade. Es war vorzüglich, aber wenig. In der Kantine kochten sie genauso gut, aber mehr, sagte Betty. Carlo Vitelli lächelte nur, leuchtete mit diesem Lächeln in ihr Gesicht. Es schien ihn nicht zu stören, dass sie abends noch Cappuccino trank und viel Wein, außerdem aß für zwei. Sie fühlte, dass sie gut aussah, an diesem Abend. Sie hatte sich in ein dunkelblaues Stück Stoff hinein verkleidet, das eng an den Seiten hinabglitt und Arme und Dekolleté vorteilhaft ausschnitt. Sie zog es nie an. Sie hatte es für die Hochzeit von Paola und Sergio gekauft und nur ein paar Mal getragen, obwohl Alfredo es mochte. Es war viel zu teuer gewesen, aber Alfredo hatte seine Arme ausgebreitet, hatte zum Himmel geblickt, die mit Renaissancefresken verzierte Decke einer Boutique in der Via Chiaia, und in seinem antiquierten Deutsch ausgerufen, sie gleiche einem Fabelwesen (er meinte Fee), sie müsse es haben, koste es, was es wolle. Sie aber fühlte sich darin wie in einem unheizbaren Palast im Winter.

Als man beim Dessert war, betrat ein kleines Mandolinenorchester das Restaurant, stellte sich im vorderen Teil auf. Die kratzenden, flirrenden Sopranstimmen der Instrumente, ein Heer blecherner Grillen, schrammelten die Exposition von» Torn’ a Sorriento«, dann begann der Gesang, ein Tenor, hell, etwas rau, der zu einem sicher siebzigjährigen untersetzten Mann mit kräftigen Händen gehörte, der gewiss nicht am Konservatorium studiert hatte. Wenn sie solchen Gesang hörte, dann staunte Betty über das Wunder der menschlichen Stimme, die ohne Ausbildung, ohne angelernte Technik den Raum erleuchtete, wie ein Morgenaufgang eine Landschaft.

Carlos blasse Hand legte sich auf ihre. Er sagte etwas, das sie nicht verstand, weil ihre Ohren von der Musik erfüllt waren, von deren langen Kantilenen voller Verschleifungen, orientalisch anmutender Halbtonschritte. Sie drehte ihren Kopf zu ihm, schloss die Augen und sagte:»Küss mich«, Pause,»bitte. «Also küsste er sie. Die Lippen näherten sich zögernd, legten sich auf ihren Mund und hinterließen zunächst nur einen leichten Abdruck. Aber weil sie noch immer die Augen geschlossen hielt, kehrten sie zurück, diesmal für länger, entschlossener. Die Lippen öffneten sich, sie fühlte seine nach Espresso schmeckende Zunge. Er küsste gut, mit der richtigen Mischung aus spielendem Raffinement und blinder Heftigkeit. Das hatte sie nicht erwartet. Als sie aufhörten, lehnte er seine Stirn gegen ihre, sein Atem ging schwer. Er drückte ihr Handgelenk, dass es weh tat. Von so nah waren seine Augen meerfarben, tief. Gern hätte sie sich übergangsweise in ihn verliebt.

Tom Holler in Genua spielte derzeit ein Solo über a-Moll, C-Dur, H7 und dachte schlechtgelaunt an eine Zigarette.

«Lass uns gehen«, flüsterte sie, ohne zu wissen, was genau sie damit meinte.

Er zahlte. Sie liefen an den Musikern vorbei zur Garderobe, Carlo nahm vom Kellner die Jacken entgegen, ihren Cordanorak, der gar nicht zum Kleid passte, und seinen dunkelblauen Lodenmantel, die allgemeine Uniform gut betuchter Neapolitaner. Augenblicklich verwarf sie den Gedanken, sich je in ihn verlieben zu wollen. Als sie in seinem Auto saßen, dachte sie an Alfredo, wie er in seinem römischen Hotelzimmer auf dem Bett läge, heimlich fernsähe und sich über das Programm aufregte. Oder wie er las und sich Notizen am Rand machte mit seiner sehr feinen Bleistiftschrift und dann eindöste, mit dem Buch auf der Brust.

Carlo fuhr schweigend. Er parkte bei einem Hotel in der Via Mergellina. Das Meer tat, als schliefe es. Es hielt sich die Augen zu, als Betty ausstieg und hinter Carlo herging, auf den Eingang des Hotels Marina zusteuerte, durch die gläserne Drehtür hineinglitt, und es ignorierte auch den kurzen Dialog ihres Begleiters mit dem diskret lächelnden Portier, den Betty etwas abseits auf einem Bein stehend nur aus dem Augenwinkel beobachtete, als ginge es sie nichts an. Das Meer jenseits des vierspurigen Lungomare wollte weder von der Schlüsselübergabe Notiz nehmen noch davon, wie Betty und Carlo die Treppe in den zweiten Stock hinaufstiegen, als wäre dies ihr seit Jahrzehnten auf einer Landkarte vorgezeichneter Weg.

Betty aber sah alles. Jeden Gegenstand in diesem neapolitanischen Mittelklassehotel nahm sie mit besonderer Schärfe wahr: das Geländer der Treppe, lang und gebogen und aus Messing, dass es matt glänzte; die Lampen an der Wand, die sie hinaufbegleiteten, hinter rostroten, kegelförmigen Schirmen. Dazwischen alte Schwarzweißfotografien neapolitanischer Sänger, wie sie erstaunt feststellte, Caruso, Francesco Albanese, Sergio Bruni, Aurelio Fierro, Renato Carosone, Claudio Villa (der allerdings Römer war). Die Tapete unter den Fotos schimmerte dunkelrot im Licht, feine Blumenornamente. Im ersten Stock sah man eine kleine Sitzgruppe, auf dem niedrigen Tischchen eine Vase mit Nelken (Seidenblumen). Eine Tür mit der Nummer 12, eine messingfarbene Aufschrift, schnörkelige Zahlen, ihr eigener Schatten, der über den Teppich streifte, und auf der Treppe vor ihr Carlos Rücken im dunkelblauen Lodenmantel, darüber sein Haar, das lockig vom Kopf abstand.

Als er im zweiten Stock die Tür aufschloss, fragte sie sich, wie oft er dies schon getan hatte. Da er, wie die meisten unverheirateten Neapolitaner unter 35, noch bei seinen Eltern wohnte, hatte er sich offenbar eine gewisse Routine in der Buchung von Hotelzimmern angeeignet. Es war normal und besser immerhin, als wenn er mit ihr zu jener berühmten Aussichtsplattform in Posillipo gefahren wäre, hoch über dem Meer, die weniger finanzkräftige Paare aufsuchten, um die Scheiben ihrer Autos für einige Stunden mit Pappkartons zu verdunkeln. Trotzdem war sie sich in diesem Moment sicher, dass er eine Freundin hatte, eine Verlobte vermutlich, die auf einem völlig anderen Blatt stand. Und es erleichterte sie.

Er ging ihr ins Zimmer voran, Straßenlicht kam durch das hohe schmale Fenster, klebte ein Rechteck auf den Fußboden. Darin stand Carlo. Mit einem Mal sah er unsicher aus, während er in diesem fremden Zimmer stand. Noch immer hielt er den Schlüssel in der Hand, legte ihn jetzt auf den kleinen Tisch neben dem Fernseher. Und in diesem Augenblick lernte Tom in Genua ein rothaariges Mädchen kennen. Betty schloss die Tür hinter sich. Sie stand in Kleid und Anorak und dachte an die Prinzessin, die sie als Kind einmal zum Fasching gewesen war. Weil es kalt gewesen war und Schnee in der Luft wehte, hatte sie eine dicke, sehr wenig königliche Winterjacke über ihrem federleichten Kostüm getragen. Tom wunderte sich über das Haar des rothaarigen Mädchens, das fest und wie die Windungen riesiger Schrauben über ihren Schultern stand. Carlo tat einen großen Schritt auf Betty zu und ging vor ihr in die Knie. Er umfasste ihre Hüften und drückte seinen Kopf in ihren Bauch. Sie erschrak. Ihre Arme hingen wie ratlos herab. Dann aber erinnerte sie sich, dass Süditaliener einen ausgeprägten Sinn fürs Dramatische hatten, und weil es sich anbot und ein in diesen Situationen bewährtes Handlungsmuster war, legte sie ihre Hände an Carlos Kopf und streichelte sein Haar. Festes und sehr dickes Haar, ein bisschen Gel war darin und blieb als klebriger Film an ihren Fingern. Da er noch immer auf den Knien hockte, ließ auch sie sich hinabsinken. Sie nahm sein Gesicht in die Hände, küsste ihn. Carlo ließ sie los, und während sie sich küssten, zog er sich den Mantel aus, ohne ihren Mund für einen Moment zu verlassen. Auch sie wand sich küssend aus der Jacke. Auch wand sie sich aus ihrem Körper. Sie fuhr aus ihrem Körper hinaus und hinauf und hatte fortan den Eindruck, sich von außen zu betrachten, von außen oben auf Betty Morgenthal hinabzusehen und über dieselbe den Kopf zu schütteln.