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Sie sah, wie sie sich von Carlo löste, wie sie aufstand und zum Bett hinüberging, wo sie sich ausziehen wollte, was alleine jedoch schwierig war, da der Reißverschluss hinten am Kleid saß. Sie sah, wie er ihr half. Und gleichzeitig aber fühlte sie seinen schnellen Atem im Nacken, seinen Körper, seine Hände, die warm waren und über ihren Rücken liefen. Sie war doppelt anwesend. Sehend und fühlend, was sie nicht einmal als unangenehm empfand.

Tom Holler suchte nach geeigneten Gesprächsthemen für das rothaarige Mädchen.

Carlo drückte seine Finger in Bettys Hüfte, seine Lippen bissen in ihre Schulter. Dann drehte sie sich zu ihm um, öffnete ihren BH und streifte den, mit Bedacht gewählten, Slip herunter, fühlte, wie er an ihren Beinen hinabglitt, und stieg hinaus. Sie war froh, dass niemand Licht gemacht hatte. Carlo löste nicht den Blick von ihr, als er seinen Pullover über den Kopf zog und anfing, sein Hemd aufzuknöpfen, es mit schnellen Bewegungen aus der Hose riss. Sie legte ihre Hand auf die Wölbung an seinen Jeans, öffnete mit der einen den Gürtel, mit der anderen Hand den Reißverschluss und wunderte sich über die eigene Geschicklichkeit. Während Betty und Carlo aufs Bett fielen oder kurz danach, gab Tom dem rothaarigen Mädchen Feuer und sah ihm tief in die Augen.

Sie schliefen nicht viel in dieser Nacht. Als sie nebeneinanderlagen und Carlo ihren Arm streichelte, hinauf bis zur Schulter und wieder hinab, und sie ihm erklärte, dass sie verheiratet sei und so weiter, schließlich liebe sie ihren Mann und so fort, dass die Arbeit nicht beeinträchtigt werden dürfe durch dies hier — (sie sagte» dies hier«, ohne dass sie» dies hier «hätte definieren können) —, hatte sie kein schlechtes Gewissen. Dies hier, was immer es war, hatte nichts mit Alfredo zu tun. Sie hätte nie gedacht, dass es so einfach sein würde. Und als sie frühmorgens noch vor dem Einsetzen des Berufsverkehrs in Carlos aufgeräumtem Fiat saßen und übers Lungomare in Richtung Vesuv fuhren, während sich die glühende Sonne über den Horizont schob, so dass die Windschutzscheibe rot erleuchtet war und die See flimmerte und spiegelte im Gegenlicht, hatte sie ausdrücklich das Gefühl, am Leben zu sein. Sie war nicht alt, sie war begehrenswert, und sie wohnte am Meer.

Tom schlief zu dieser Uhrzeit.

Erst im Stadtteil Vomero, wo sie leise die Tür zu ihrer Wohnung aufschloss und durch den kleinen Flur in die Dämmerung der Küche hineinging, in der noch niemand die Fensterläden geöffnet hatte und die Luft abgestanden war, verdickt, wie sie ist, wenn man aus einem langen Urlaub heimkehrt, schlich sich ein wurmartiges Gefühl ein, das einem schlechten Gewissen sehr nahe kam. Es nagte sich vom Magen aus hinauf in die Herzgegend. Aber es bezog sich kaum auf das, was sie mit Carlo im Hotelzimmer getan hatte, das war vergangen und konnte vergessen werden. Es richtete sich eher auf die Tatsache, dass sie ausgerechnet dieses Kleid getragen hatte. Dieses Kleid, das Alfredo liebte. Das er ihr gekauft hatte, als er sehr wenig Geld gehabt hatte. Dieses Kleid, das jetzt zerknittert an ihr herabhing und dessen Saum am Reißverschluss ausgefranst war.

DIE GUTE STUBE DER ERINNERUNG

«Sie sind drei Schwestern. Die Trauer, die Melancholie und die Liebe — sie sind drei Schwestern und deshalb miteinander verwandt! Nah verwandt, wie es eben Schwestern sind.«

Nebelhafter Regen hing vor den Fenstern, dahinter erahnte man die kahlen Bäume, die sich unter dem Druck des Sturms neigten. Das Summen des Windes, das zwischen den Zähnen splitternde Shortbread und ein Klirren der Teetässchen. Heizungsluft vibrierte und nestelte an den Gardinen. Der Geschmack des Gebäcks, süß, etwas salzig manchmal.

Breitenbach schlug schwungvoll sein beigebraunes Bein über und sagte, dass der Mechanismus identisch sei, die Struktur. Er bat, dass man es ihn folgendermaßen erklären lasse, dass nämlich, so sprach er, ohne die Erlaubnis abzuwarten, der Melancholiker und der Liebende ihrem Wesen nach Trauernde seien, sozusagen.»Der Trauernde«, sagte er,»hat, wie wir wissen, einen Verlust zu beklagen, weil er jemanden verloren hat. Was aber tut er mit seinem Verlust, was tut er mit dem Menschen, den er verloren hat? Er konstruiert sich ein Bild der Erinnerung, Er-Innerung, allein das deutsche Wort beschreibt diesen Vorgang auf das Anschaulichste, der Trauernde verinnerlicht den Verstorbenen, und er selbst verschließt sich der Außenwelt, indem er sich in den Raum seiner Erinnerung zurückzieht. «Breitenbach rieb seinen Rücken behaglich an der Stuhllehne.»Die Parallelen zur Melancholie sind ja offenkundig: Auch der Melancholiker zieht sich in den Erinnerungsraum zurück, in die Innenwelt der Imagination, denn auch er beklagt einen Verlust, den Verlust der Einheit, den Verlust des naiven Erlebens. Und der Liebende?«

Tom hatte nicht gewusst, ob Breitenbach eine Antwort erwartete, aber trotzdem eine gegeben.»Er trauert darüber, dass er nicht besitzen kann«, sagte er.»Man wird niemanden komplett besitzen, wahrscheinlich«, fügte er stolz hinzu.

«Sie haben recht!«Breitenbachs weißer Zeigefinger zeigte in die Höhe.»Der Liebende kann das Geliebte nicht besitzen, und er substituiert es als Gedankenbild in seiner Phantasie. Sowohl der Trauernde als auch der Melancholiker als auch der Liebende, sehen Sie, richten sich dauerhaft, lassen Sie es mich so formulieren, in der guten Stube der Erinnerung ein. Und diese gute Stube der Erinnerung bewahrt uns vor der Welt!«

Tom Holler lag in Genua, über ihm die rosafarbene Stuckdecke des Hotelzimmers, darüber der tiefblaue Himmel, an dem die Sonne, die einige Stunden zuvor am Golf von Neapel hinter dem Vesuv aufgegangen war, ihrer Bahn gegen Mittag folgte, und blickte in die gute Stube der Erinnerung. Darin saß Breitenbach neben Marc neben Betty neben dem rothaarigen Mädchen. Es macht keinen Unterschied, wann etwas vergangen ist, vor vierzehn Jahren oder vor einer Sekunde, dachte er. Er öffnete die Augen, sah eine Hand auf der Bettdecke, seine eigene, weiß, und am Übergang zum Arm schwarz behaart, Zeige- und Mittelfinger gelb verfärbt. Er sah den Fernseher, der tonlos lief, eine schöne Moderatorin erklärte darin das Wetter, hatte ihm vielleicht die halbe Nacht das Wetter zu erklären versucht. Er richtete sich im Bett auf, aber der Schmerz hinter seiner Stirn zwang ihn sofort wieder in die Horizontale. Er schloss die Lider, behutsam, denn schon die kleinste Bewegung der Augäpfel verursachte ein Stechen. Er wunderte sich. Alles war gleich groß in seiner Erinnerung: Die Wettermoderatorin, Breitenbach, Betty und Marc und Maren, mit der er glücklich gewesen war, besoffen, aber glücklich.

Und wenige Stunden zuvor hast du über das Glück nachgedacht, dachte er, in der Kantine des Theaters, eine Zigarette zwischen den Lippen, die du aber nicht anzündetest. Ulrich Zadera, der, seit er Vater geworden war, nicht mehr rauchte, als wäre das Leben mit einem Mal wertvoller, hatte auf seiner Digitalkamera Bilder aus seinem Urlaub in Süditalien gezeigt.»Der Strand, unsere Ferienwohnung, unsere Terrasse. «Er selbst hatte aufs Display gestarrt und an seine Berliner Wohnung gedacht, die er am Vortag erst verlassen hatte und die ihm doch ebenso weit entfernt schien wie seine frühe Kindheit. Ulrich hatte einen Videofilm gezeigt, Karl, das Kind, das lachend einen riesigen, offenbar gutmütigen Hund zu fangen versucht.»Der Karl und sein Freund«, sagte Ulrich, und Holler dachte, dass er seine Berliner Wohnung verlassen hatte, als wäre es für immer. Ulli zeigte einen zweiten Film, lächelnd. Unser Strand, unsere Terrasse, unser Leben. Holler, der seit längerem den Verdacht hegte, der Schlagzeuger sei glücklich, war sich auf einmal sicher gewesen, dass er glücklich war. Langweilig, aber glücklich. Aber das Glück machte einsam. Das Glück anderer Menschen macht immer einsam, weil das Glück der Menschen, zumal das Familienglück, die übrigen ausschließt, hatte Holler gedacht, während Zadera an seiner Kamera drückte.