Holler, während er trank, ging in sich hinein und forschte nach geeigneten Gesprächsthemen.
«Was machst du hier?«, sagte er endlich, was nicht originell war, aber ein erster Anfang sein konnte. Dabei stellte er sich vor, wie er diesen Mund küsste, aber dabei an Betty dachte.
«Ich würde gern noch eine rauchen«, sagte, statt einer Antwort, Maren, und wieder gab er ihr Feuer, blickte diesmal lange in diese fremden Augen hinein, und sie lächelte und senkte die Lider, während sie einen tiefen Zug nahm und dann den Rauch in einem steilen Winkel zur Seite blies. Tom konnte sich gar nicht erinnern, wann er eine Frau zuletzt mit derartigem Blick angesehen hatte, so tief, dass sie die Augen niederschlug. Es war berauschend, dieses Augenniederschlagen, und hinterließ ein jähes Brennen in seinem Bauch, fast wie der Grappa, von dem man inzwischen schon das dritte Glas geleert hatte. Er dachte an Betty, die direkt hinter Maren zu stehen schien, die ihrerseits etwas durchsichtig wirkte.
«Ich mache ein Praktikum hier am Theater, bei der Rossiglione«, sagte sie auf einmal und verdrehte kurz die Augen. Ansonsten, fuhr sie fort, recherchiere sie für ihre Dissertation in Kunstgeschichte, sagte sie, deshalb Italien. Sie untersuche, sagte sie schnell, wie um einer etwaigen Frage seinerseits zuvorzukommen, das Moderne in der Kunst, die Malerei nach dem Zusammenbruch der Metaphysik, nach dem Verlust, so sprach sie hastig, der Religion, Renaissance, Romantik, Epochenzäsuren, sagte sie, um dieses Thema, schien es, möglichst rasch abzuhandeln.
«Ach«, sagte Holler,»Epochenzäsuren«, und überlegte, wie sich wohl dieses Haar anfühlen mochte.»Interessant.«
«Prost und salute«, sagte Diedrich.
«Prost und salute«, sagten die Techniker.
Holler sagte:»Wer macht denn die Epochenzäsuren, wer zieht denn die Linien zwischen den Epochen mit Bleistift und Lineal?«
Didi sagte:»Auf die deutsch-italienische Freundschaft!«
Maren lächelte auf ihr Weinglas hinunter und drehte es und drehte es, dann warf sie Kopf und Haar zurück, das lang auf ihren Schultern nachwippte, räusperte sich, was in etwa klang, als würde ein Knäckebrot zerbrochen, und sagte:»Wir, der Mensch.«
Diedrich las die Zukunft aus Simonas Hand heraus.
«Wir, der Mensch macht also die Zeit«, sagte Holler.
«Er macht sie nicht, aber er teilt sie ein«, sagte Maren und lächelte.
«Aber wie kann er sie einteilen?«, fragte Holler.»Wie kann man etwas einteilen, dessen Ende man gar nicht kennt?«, fragte er und hörte, als er schwieg, dass Simona so schöne Augen habe, was ihr von Didi versichert wurde. Über die Schönheit der Augen ist zu sprechen, nicht über Epochenzäsuren, dachte Holler, und wieder drang er mit seinem Blick in die Pupillen von Maren und sah darin aber nur Betty. Klein, wie im umgedrehten Objektiv eines Fernrohrs erschien Betty auf den Spiegeln ihrer Pupillen, Betty auf dem roten Küchensofa sitzend. Betty in einem Herbstwald, mit einer Plastiktüte in der Hand, in die Pilze hinein sollen, aber wo keine sind und niemals sein werden. Marc am Flügel, mit Zigarette im Mundwinkel. Wolken, die an einem schrägen Dachfenster vorüberfliegen, am Zimmer seiner Kindheit.
«Tom?«, eine helle Stimme.
«Ja.«
«Geht’s dir gut?«, fragte Maren, die außer diesen Augen also auch eine Sprache hatte, ein Gesicht, einen Mund. Besorgt, als ob sie durch eine Scheibe in eine Krankenstation hineinsähe, blickte sie ihn an.
«Ja«, sagte Tom.»Mir ging es lange nicht so gut«, sagte er, was Maren offenbar nicht glauben konnte, aber es ist die Wahrheit, dachte er.
«Ich fand es sehr schön«, sagte sie plötzlich.»Euer Konzert«, fuhr sie fort, als Tom nicht gleich wusste, was sie meinte.
«Es war, es ist tolle Musik«, sagte sie und schob den Kopf mehrere Male ein wenig nach vorn, wie zu einem Nicken,»ich kenne mich nicht aus, aber es war schön. «Sie errötete tatsächlich, was aussah, als breiteten sich die Sommersprossen über die weißen Stellen auf ihrem Gesicht aus. Tom betrachtete sie verwundert, sah, wie sie erneut die Lider senkte, hellrote, fast unsichtbare Wimpern, und er staunte, als er sich vorstellte, wie sie im Konzert gesessen, vielleicht hier und dort die Augen geschlossen hatte und für einige wenige Akkordfolgen glücklich gewesen war oder sehr traurig, aber Dinge gefühlt hatte, die sie sonst nicht fühlte, so wie er es von früher kannte, als die Musik ein anderes Land gewesen war, zu dem eine einzige Mollverbindung die Tür hatte öffnen können. Stumm nahm er ihre Hand und drückte sie. Sie wartete kurz, dann zog sie sie weg.
Später waren sie durch die dunklen Straßen gelaufen, weil ein Club irgendwo noch geöffnet sein sollte. Die Nacht aus schwerem Samt. Simona lief auf Stöckelschuhen (Maren nicht), und die Absätze klapperten auf dem Pflaster. Tom beobachtete, wie Didi seinen Arm um Simonas Schultern legte, sie trug einen hellen Trenchcoat, der neben ihr wehte. Aus einem hohen Fenster, schwach beleuchtet, flog leise Orchestermusik von CD. Ein Neonschriftzug über der schmalen Gasse. Maren ging lautlos neben Tom, aus dem Augenwinkel sah er, wie der Schattenriss ihres Haares bei jedem Schritt wippte.
«Es riecht überall nach Meer«, sagte er.
«Kolumbus ist von hier in See gestochen«, sagte sie.
«Schade, dass alles bereits entdeckt ist.«
Wieder nahm er ihre Hand, und er blieb stehen, legte den Zeigefinger an seinen Mund und zog sie in einen Hauseingang. Dort stand sie und lehnte mit dem Rücken am Tor, zwei Löwenköpfe aus Stein links und rechts darüber. Er war dicht vor ihr, stützte seine Hände neben ihrem Kopf am Tor ab und sah in diese braunen Augen. Er wunderte sich über das Mysterium der Fremdheit, nichts kannte er von der Person hinter dieser ernst blickenden Stirn, nichts, nur dass sie sich mit Epochenzäsuren und dem Verlorengehen Gottes auseinandersetze. Der kleine Gott hat sich verlaufen, er möge sich bitte bei seiner Mama im Kinderparadies melden. Er hatte zu viel getrunken. Er wollte ihren Mund küssen. Aber sie ging in die Knie und tauchte unter seinen Armen durch. Dabei lachte sie und lief ein paar Schritte rückwärts, während sie Tom mit ihrem Blick ein Stückchen hinter sich herzog. Dann drehte sie sich um und lief davon. Tom aber war glücklich in diesem Moment. Wenn es schon keinen Sinn gibt im Leben, dachte er auf einmal, an die kalte Steinmauer eines ewigen Palazzos gelehnt, Blick in den kalten ewigen Himmel, dann wenigstens dies: Glück.
Ja, er war glücklich gewesen, dachte er am Morgen. Wenn auch besoffen, aber glücklich, und wer wusste, ob sein mitgenommenes limbisches System in der Lage gewesen wäre, dieses Gefühl auch ohne Alkohol zu produzieren. Wer wusste, ob nüchternes Glück mehr zählte als betrunkenes, ob ein Unterschied bestand? Wer konnte sagen, ob es wahres und falsches Glück gab?
Er dachte an eine Zigarette, endlich, und als er sich aufrichtete, um sich zum Zigarettenpäckchen auf seinem Nachttisch hinüberzubeugen, während der Schmerz seinen Kopf durchfuhr, fiel ihm die Verabredung für 13 Uhr ein.»Ich zeige euch Genua«, hatte die flammenhaarige Maren gesagt, und wie sie es betont hatte, ernst, sehr ernst und bestimmt, hatte es nicht in erster Linie nach Spaß geklungen. Wie es wäre, sich in sie zu verlieben, übungshalber? Er blinzelte, zündete sich eine Zigarette an, dachte an das große Rätsel des Glücks. Warum hatte er Breitenbach nie darüber befragt? Der unglückliche Breitenbach hätte ihm sicher alles über das Glück erklären können. Breitenbach, der einmal gelebt hat und dann einmal gestorben ist. Tom hatte es vor einigen Jahren aus der Zeitung erfahren, eine einfache Todesanzeige, klein, in schwarzer Umrandung, ein Nietzsche-Zitat links oben. Das ist es, was bleibt. Ein schwarzer Kasten und ein Nietzsche-Zitat, dachte er in Genua.
Er rauchte mit geschlossenen Augen, lauschte auf die Geräusche, die ihn umgaben, entferntes Wasserrauschen, ein Staubsauger, dumpf und leise. Vor dem geöffneten Fenster der Straßenverkehr. Und ein Geruch, den er kannte, süßlicher warmer Stadtgeruch. Er war in Genua und gleichzeitig in Berlin, das ihn an jenem Abend, wie ihm jetzt einfiel, an jenem entfernten Abend ihres ersten gemeinsamen Konzertes, da sich alles entschied, an Italien erinnert hatte.