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Später an diesem Abend trat ein Mädchen namens Nicki in Toms Leben. Und trat schnell wieder hinaus. Sie war eine Theater- oder Film- oder Medienwissenschaftlerin und hatte die Makrameeampeln gemacht. Ihr Mund schien weich und erinnerte an zermanschte Erdbeeren. Blau und riesigrund ihre Augen, mit leicht verlaufener Wimperntusche, wie die Ufer zweier Seen. Tom, als sie sich neben ihn stellte, wusste aber nicht, was er Intelligentes zu den Makrameeampeln anmerken konnte. Deshalb drehte er seinen Oberkörper, um nach Betty zu sehen, die sich jedoch mit Tini unterhielt. Beide deuteten auf die Hasenfiguren, wiegten die Köpfe und federten in den Knien.

Seine Mutter habe immer solche gehabt, sagte er nach langem Nachdenken. Marc fixierte eine Ecke des Raums, in der Betty auf keinen Fall sein konnte.

«Hm?«, machte Nicki.

«Diese Ampeldinger, meine ich, die hatte meine Mutter immer.«

Nicki lächelte nachsichtig, als sei dies ein Gemeinplatz.

«Sie hatte auch religiöse Motive aus dem Zeugs«, fuhr Tom fort.

«Religiöse Motive?«Das interessierte sie nun doch.

«Genau, religiöse Motive.«

«Aha?«

«Sie hatte so ein kleines Kreuz mit einem Christus aus Makramee.«

«Echt?«

«Ja«, sagte Tom, obwohl er sich plötzlich nicht mehr sicher war.

Später saß er mit ihr auf einem Sofa. Sie wirkte sehr unschuldig, hatte die Unterschenkel neben dem Hintern verkreuzt, als hätte sie kaum Knochen. Es stellte sich heraus, dass sie genau genommen eine Genderwissenschaftlerin war, und sie erklärte ihm bereitwillig, dass die Mutterliebe eine gesellschaftliche Konstruktion sei, die zur Unterdrückung der Frau erfunden worden war. Tom wunderte sich wirklich sehr. Er musste auf die Toilette.

Marc fand er auf den Stufen im Flur hockend. Da die Beleuchtung ausgefallen war, hatte man Hunderte von Teelichtern aufgestellt, die das gesamte Treppenhaus in ein schwimmendes Licht tauchten. Marc hatte die Arme über den Knien gefaltet, betrachtete einen Punkt in der Luft, der für andere Menschen unsichtbar war. Kerzenlicht und Schatten wanderten über sein Gesicht.

«Was ist los?«, fragte Tom.

Marc hob die Schultern, ohne den Punkt in der Luft aufzugeben.

«Was soll los sein?«, sagte er.»Nichts. Ich muss an die frische Luft.«

Sie setzten sich im Hinterhof auf ein moosbewachsenes Mäuerchen, auf dem noch Sommerwärme lag. Aus dem geöffneten Fenster im ersten Stock drangen Technobässe, Zigarettenrauch. Ein Grüppchen lachender Menschen stand zwischen den Mülltonnen. Sie aber schwiegen. Marc ritzte mit dem Fingernagel kleine Linien ins Moos. Unvermittelt sagte er:»Du hast doch gesagt, sie wäre nicht hübsch.«

«Wer?«

«Diese Betty oder wie sie heißt, Morgentau. «Marc las das Etikett seiner Bierflasche.

«Morgenthal«, sagte Tom.»Betty Morgenthal.«

«Ach ja«, sagte Marc. Er nahm einen Schluck und untersuchte dann die Flechten und Moose auf der Steinmauer.

«Hab ich gesagt, sie ist nicht hübsch?«

Marc zuckte mit den Schultern, so als wäre es nicht wichtig, und wandte sich einer besonders großen Flechte zu, einem grauen ausufernden Fleck in der Form Nordamerikas. Es konnte auch ein Kaugummi sein.

«Ich habe gesagt, ich weiß nicht, ob sie hübsch ist. Nicht hübsch und nicht hässlich, hab ich gesagt. «Erst jetzt begann Tom zu begreifen. Er lächelte, aber inwendig.

«Ist sie nicht Sängerin oder so was?«Marc zündete sich eine Zigarette an. Die ganze Zeit über hatte er vergessen zu rauchen.

Tom nickte mit dem Kinn bis auf die Brust hinab.»Sängerin. Sie studiert mit mir.«

Marc sah auf die Häuserdächer gegenüber. Er benahm sich, als hätte Tom gesagt, sie schläft mit mir. So bedeutungsvoll war sein Blick allein bei der Vorstellung, dass sein Freund tagaus, tagein durch dieselbe Tür in dasselbe Gebäude hineinging wie Betty Morgenthal.

«Und …«, er sah auf Toms Knie und schwenkte kurz und suchend seine Hand,»… führt sie nicht diese Hunde aus? Von der Hermanns?«

Wieder nickte Tom. Längst hatte er ihm alles erzählt: Dass Betty die Hunde ausführte, dass sie nett war, nicht hübsch und nicht hässlich, sondern nett. Dass sie einen Exfreund namens Alex hatte, ein halb abgebrochenes Medizinstudium und ein Bianchi-Rennrad und dass er sich vorstellen konnte, sie bei Gelegenheit für ein paar Gesangsaufnahmen in den Proberaum zu bestellen. Aber Marc wollte alles noch einmal hören.

«Marc, so kenne ich dich gar nicht«, sagte Tom, und jetzt konnte er sein Grinsen nicht länger zurückhalten. Es kippte durch die Augen hinaus, breitete sich über das ganze Gesicht. Er boxte Marc in die Seite, dass sein Oberkörper einknickte.»Es kann nicht sein, dass dir Betty zufällig irgendwie gefällt?«

Marc blies laut einen Schwall Luft durch die Lippen. Er wollte etwas einwenden, es fehlten ihm aber die Worte. Deshalb schwieg er und zündete sich eine Zigarette an. Jetzt, wo ihm das Rauchen wieder eingefallen war, rauchte er eine nach der anderen.»Keine Ahnung«, sagte er, als viel Zeit vergangen war, so viel, dass Tom sich kaum noch an die Frage erinnerte. Dieses keine Ahnung aber blieb zwischen ihnen als allgemeingültige Überschrift hängen, und universal gesehen war es ja auch nicht falsch.

Im Ausstellungsraum schien kaum Zeit vergangen zu sein. Die dunklen Drum ’n’ Bass-Rhythmen, die darin seit Stunden auf der Stelle kreisten, waren zum greifbaren Mobiliar erstarrt. Marc und Tom stellten sich an die Bar, Bierflaschen und Zigaretten in den Händen, sahen auf die kleine Tanzfläche vor der Bühne, Helge gab einige Runden norddeutschen Schnaps aus, der wie Benzin in der Magengrube brannte. Betty tanzte. Sie spreizte die Arme, schwebte über den Boden, als balancierte sie über ein Seil, wies mit ihrer Zigarette in die Luft, ging in die Knie und drehte eine Pirouette, schwebte dann, auf einer Linie einen Fuß vor den anderen setzend, quer über die Tanzfläche wieder zurück, schüttelte ihr Haar, hoch über dem Kopf ihr ausgestreckter Zeigefinger. Tom sah, dass Marc sah. Der trank noch einen St. Margarethener Benzinschnaps auf ex. Als Betty sich neben ihn an den Tresen stellte, wandte er hastig den Blick ab und vertiefte sich in ein bis dahin eher halbherzig geführtes Gespräch über Evolution und Kunst.

Der Mensch, so Marc zu Helge, habe ja im Grunde ein total überdimensioniertes Gehirn. Fürs Überleben jedenfalls brauche er es gar nicht. Dass der Urmensch sich diesen Luxus des Gehirns aber trotzdem geleistet habe, zeige, dass es doch irgendeinen Evolutionsvorteil darstellen müsse, dass der Mann mit Geist offenbar als Sexualpartner attraktiver sei, schrie er und blies sich auf, dachte Tom, gummitierartig.»Aber nicht«, fuhr er fort,»weil die Weibchen Kunst und Höhlenmalerei und den ganzen Quatsch so toll finden, sondern weil er damit signalisiert, so überlegen zu sein, dass er sich sogar noch diesen unnötigen Luxuskram leisten kann. «Er redete laut und konsequent an der gleich neben ihm stehenden Betty vorbei auf Helge ein, und dieses Reden schnitt den Tresen in zwei Hälften, eine, in der Betty stand, und eine andere, in der sie nicht stand. Die Betty-Hälfte wurde von der Redeschere fein säuberlich abgetrennt. Marc zündete sich eine Zigarette an, obwohl die alte noch im Aschenbecher verglühte. Er sagte:»Andererseits hat der Mensch wohl Musik schon immer gemacht. «Helge nickte vor sich hin und trank einen Schnaps. Tom gab Betty Feuer. Marc kniff ein Auge zu und sah mit dem anderen durch sein Schnapsglas hindurch, knapp an Betty vorbei. Er sagte laut:»Stockhausen!«Und:»Die Musik als ordnendes Prinzip in der Zeit. «Hinter dem Tresen blinkte ein strahlenbekränztes Madonnenhaupt auf. Auf der Tanzfläche knutschten zwei blonde kurzhaarige Frauen. Marc bog die Augenbrauen in die Höhe, blies sich noch weiter auf, als er sagte, der Mensch habe angefangen, Musik zu machen, aus Angst vor der Stille. Warum singe denn ein Kind, fragte er, das in den Keller gehe? Um die Stille zu übertönen, antwortete er, aber nicht aus Furcht vor Gespenstern, sondern aus Angst vor dem leeren Verstreichen der Zeit. Er klang heiser. Er öffnete sich mit dem Feuerzeug ein Bier.»Machst du mir auch eins auf?«, sagte Betty, und Marc öffnete ihre Flasche und sah über ihren Kopf hinweg zu Helge, während er sagte, dass die Zeit weit weniger entsetzlich sei, wenn geordnet.»Und deswegen hat der Mensch angefangen zu singen.«