«Und der Vogel?«, fragte Betty.»Warum singt der?«
Marc schien sie nicht gehört zu haben. Wenn überhaupt, dann hörte er mit den Augen, die groß und weit über Betty hinwegschauten, aber er schien etwas von seiner Aufgeblasenheit zu verlieren, kleiner zu werden.»Lass uns spielen«, sagte er zu Tom, und der zog Betty hinter sich her auf die Bühne. Einige Instrumente waren noch verkabelt. Er warf Betty ein Gesangsmikro zu.»Quatsch«, sagte sie, aber Tom setzte sich ans Piano, stimmte» Dance Me to the End of Love «an von Cohen, und Betty sagte:»Das kannst du vergessen, dass ich jetzt hier …«, aber, was sollte sie tun auf einer Bühne mit Mikrofon in der Hand, also sang sie. Schwebte in die Musik hinein, mit einer Stimme, so ätherisch und blau wie ein Lüftchen im Freibad, als sie nah am Mikrofon die Melodie hauchte, bis sie sich im zweiten Durchgang, als die Band die Harmonie des Stücks verlassen hatte, mehr traute, gläserne Operntöne in absolute Grenzlagen schickte, um sich dann in ein naives Pop-Säuseln zurückzulehnen, das bald experimentelleren Tönen wich, indem sie Laute und Silben rhythmisch zerhackte, gurrte und flüsterte und sich schließlich Marcs Loopmaschine nahm, um schwerelose Ennio-Morricone-Bögen, die sie mit zweiten und dritten Stimmen doppelte, endlos durch die Luft kreisen zu lassen. Das Publikum tanzte. Tom und Ulrich lächelten vor sich hin. Marc war blass, sein Blick ging ins Nichts, bemüht, den Eindruck gelangweilter Musikerprofessionalität herzustellen, der ihm aber wie eine leicht verrutschte Papp-Maske auf dem Gesicht hing.
Als sie nach Hause gingen, stieg ein neuer Tag hinter den Dächern herauf. Tom umarmte Betty zum Abschied und küsste sie auf beide Wangen, einerseits, weil er das öfter machte, andererseits als Vorlage für Marc, der danebenstand und erstaunt den Himmel betrachtete, als sähe er ihn zum ersten Mal. Aber er streckte nur hölzern die Hand aus und ergriff diejenige Bettys für die Hälfte eines Augenblicks. Tom hatte ein Taxi herangewunken und stieg, bevor Marc etwas einwenden konnte, allein hinein und fuhr durch den zwitschernden Morgen davon. Im Rückspiegel sah er die beiden einander gegenüberstehen und immer kleiner werden.
Zu Hause ging er zum Telefon und wählte ihre Nummer. Es tutete dreimal, viermal, fünfmal. Dann nichts, der AB. Anne Hermanns’ unverbindliche Säuselstimme, der lange Signalton. Tom drückte auf die Gabel und wählte erneut. Wieder tutete es, und jetzt wurde abgenommen, eine verschlafene Männerstimme, mit einer Spur von Aufregung unterlegt, meldete sich mit:»Ja, bitte?«Als Tom durch längere Zeit schwieg, wiederholte die Stimme, lauter diesmaclass="underline" »Bitte, wer ist da?«, wie es aus französischen Ehedramen im Schwarzweißfilm bekannt ist. Dann wurde aufgelegt.
Der Anrufer aber hielt noch minutenlang den Hörer in der Hand, sah ihn vorwurfsvoll an, als läge dies alles in seinem Verantwortungsbereich, bevor er das ganze Telefon nahm und zu Boden schleuderte, wo der Hörer auf den Dielen hüpfte, soweit es das Kabel zuließ. Am Morgen verbrachte er Stunden damit, das defekte Gerät auseinander- und zusammenzuschrauben und zu überprüfen, ob es wieder funktionierte, was es nicht tat, und so betrachtete er es als seine Aufgabe für diesen schönen und langen, gleichwohl einsamen Sonntag, auf dem Flohmarkt einen neuen Telefonapparat zu kaufen.
DER LEBENSLAUF DER EINTAGSFLIEGEN
An einem Abend im Spätsommer ging er mit Marc am Ufer spazieren. Rötlicher Glanz schipperte den Fluss hinunter, sehr gerade durch das Betonbett, vorbei an der Museumsinsel, den Schinkel-Bauten, deren Linien dunkel im blauen Gegenlicht des Abendhimmels standen. Schwüle, leicht süßliche Feuchte schwebte über dem Ufer, und als sie bei der Brücke am Monbijoupark anlangten, stieg gurrend ein Nebel von Tauben auf. Eine rotgelbe S-Bahn schnitt zwischen dem Seitenflügel des Pergamonmuseums und dem eingerüsteten Bodemuseum hindurch und verschwand. So fuhr die Zeit durch die beiden steinernen Gebäude.
Tom und Marc blieben stehen, lehnten sich auf das Geländer und sahen schweigend auf den Fluss hinab, wie man es gewohnt ist auf Brücken. Plötzlich bemerkte Tom, dass am Uferbeton, auf dem Gras und überall ein durchscheinender weißer Schleier lag, der mancherorts zuckte und aber kein Schleier war, sondern die schillernden, geäderten Flügelchen Tausender Insekten, die an der Erde klebten, teils noch flatterten.
«Eintagsfliegen«, sagte Marc.
Tom sah aufs Wasser hinab und auf das schwimmende, zuckende Weiß. Er konnte sich nicht erinnern, je einem derartigen Massentod beigewohnt zu haben, und obwohl er sich der mäßigen Originalität seines Gedankengangs bewusst war, obwohl er sich eingestand, dass das, was er zu denken begann in diesem Moment, nichts Neues war, sondern dass Milliarden Menschen vor ihm dasselbe gedacht hatten, es jeden Tag dachten, wusste er plötzlich, dass sie beide sterben würden. Dies war ihm eine erstaunliche Neuigkeit, als erwache man aus einem schrecklichen Traum, in dem es schwer gebrannt hat und alles zu Asche zerstaubt ist, und man erkennt im bleiernen Morgenlicht: Es ist die Wirklichkeit. Er musste sich am Geländer festhalten, die Augen schließen, denn das Wasser des Flusses spiegelte, blendete ihn.
Sie setzten sich auf die Wiese des Lustgartens, noch immer in Flussnähe, wo ein paar Trommler die Luft mit ihren hinkenden Rhythmen zuschütteteten. Hunde sprangen Bällen hinterher, Touristen studierten im letzten Licht ihre Stadtpläne und Museumsführer, der Springbrunnen sprudelte, stäubte, und ein Kind wollte ein Eis, brüllend vor Wut.
«Vielleicht schreien sie deshalb so«, murmelte Tom, indem er einen Grasbüschel ausriss und in der Hand knetete.
«Hm?«, Marc kaute auf einem Halm.»Willst du ein Eis?«
Tom schüttelte den Kopf.
«Was ist los?«
«Die Kinder, wenn sie auf die Welt kommen. Vielleicht schreien sie deswegen so viel, weil sie Bescheid wissen.«
«Sie wissen was?«, Marc steckte sich zwei dicke Grashalme zwischen die Lippen und imitierte einen Vampir.
«Sie wissen Bescheid über den Tod, über das alles.«
«Sie wissen gar nichts, sie müssen das Wasser aus ihren Lungen kriegen, das ist das alles. «Marcs grüne Vampirzähne hingen nun schief an seinem Kinn. Tom musste lachen. Er war dankbar für die ahnungslose Geschäftigkeit auf dieser Wiese, das Gekicher und die fliegenden Bälle, während es dort unten zwischen den Gräsern, bei den Insekten, den Ameisen, Bienen und Käfern ums Ganze ging, um Leben und Sterben, das Fortbestehen der Art.
Marc holte jetzt doch Eis. Als Tom sein Cornetto aus dem kalten Papier schälte, dachte er, dass das alles für Marc ein alter Hut war. Mit einem toten Vater auf der Bahre, wenn man aus dem Griechenlandurlaub zurückkam, direkt nach dem Abitur, gebräunt und die Haare flachsblond vom Salzwasser, dann zollte man diesen Eintagsfliegen höchstens ein müdes Schulterzucken. Aber Marc sagte, Eis essend, dass auch er nicht an den Tod glauben könne. Trotz des gestorbenen Vaters sei ihm der Tod immer eine Behauptung gewesen, die nicht habe verifiziert werden können.»Sobald wir sterben, wissen wir ja nichts mehr vom Tod«, sagte er.»Tod gibt es nur für die Lebenden, und solange wir leben, sind wir nicht tot.«
«Aber wenn ein anderer stirbt …«, sagte Tom.
«Dann ist er nicht tot, sondern er fehlt. Er ist nicht da. Ich habe jedenfalls nicht begriffen, was das sein soll, tot.«
Marc biss in die Waffel, sprach mit vollem Mund, erklärte, es sei am ehesten der direkte Anblick, der einen etwas erahnen lasse: der Blick in das Gesicht des Verstorbenen, das nicht mehr das Antlitz eines Menschen, sondern eine Maske sei, Haut nicht mehr Haut, sondern Wachs oder Leder, die gefalteten Hände, die sich nur schwer öffnen ließen, als die Mutter ein Blumensträußchen zwischen die starren, eiskalten Finger gedrückt habe. All das. Aber nach und nach verblasse dieses Bild, dieses Wissen unter dem Weichzeichner der Zeit, und irgendwann sei es wieder der Lebende, der zurückkehre.