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Tauben wackelten heran und stritten sich um die paar Krümel, die Tom und Marc ihnen hinwarfen. Als es nichts mehr gab, ruckelten sie ihre Köpfe zurecht, vergewisserten sich aus kleinen Äuglein und stiegen mit knisternden Flügelschlägen in die Luft.

Tom erinnerte sich an seine beiden Großmütter, Schwarz fiel ihm ein, der Kirchengeruch, und nur sehr von weitem die Silhouette des Sarges, eine flackernde Kerze, die einen Streifen Ruß an der Wand hinterlassen hatte. Das war alles gewesen. Die Großväter waren lange vor seiner Zeit gestorben, im Krieg oder ganz zufällig im Wald, von einem herabstürzenden Baumstamm erschlagen. So hieß es. Und seinen Bruder Michi kannte er nur als lachendes Foto, selbstverständlich, denn der kleine Körper war schon längst unter der Erde zerfallen, als er selbst geboren wurde.

Schweigend gingen sie zurück. Tom hatte noch spät am Abend eine Probe in der Hochschule, und Marc wollte zu Betty nach Kreuzberg. Als sie sich am Gendarmenmarkt trennten und Tom die große Glastür öffnete, aus der die dunkle Kühle des Foyers und die Basslinie einer Oboe herauswehten, von den oberen Stockwerken chromatische Violinenläufe, blieb Marc unschlüssig an der Treppe stehen.

«Tom«, sagte er.

«Ja?«Er drehte sich in der Tür um.

«Du hattest übrigens recht.«

«Womit?«

«Es gibt nur eine Möglichkeit, wenn man …«Marc stockte, er kratzte mit der Spitze seines Schuhs über den Asphalt,»… wenn man verliebt ist«, sagte er und verschloss seinen Mund.

Tom tippte ihn mit der Hand kurz am Oberarm an, lächelte und ging hinein.

Marc und Betty waren offiziell ein Paar, seit jener Nacht. Die Informationen darüber, was wo wann geschehen war, am Morgen, gingen ein wenig auseinander, da Marc und Betty jeweils ihre eigenen Vorstellungen davon aufbewahrten und diese Tom mehr oder weniger ausführlich mitgeteilt hatten. Weitgehende Einigkeit bestand darüber, dass sie, nachdem Tom im Taxi davongefahren war, noch eine Weile sich gegenübergestanden hätten, abwechselnd einander ins Gesicht sehend oder auf die Straße hinab, sobald die Blicke sich trafen. Dann habe endlich Betty die Initiative ergriffen — so beide — und vorgeschlagen, man könne noch irgendwohin, eventuell etwas trinken, Kaffee oder Bier. Marc habe die Stirn gerunzelt, mit erhobenen Brauen, habe, so sei es Betty vorgekommen, nach Ausflüchten gesucht — was er leugnete —, habe allerdings, so Betty, in Ermangelung einer Idee eingewilligt. Sie seien also, schweigend, die Kastanienallee hinaufgegangen und hätten sich, weil das Café geschlossen hatte, in den Weinbergspark auf den Wiesenhang gesetzt und auf den kleinen Entenweiher hinabgesehen. Und sie hätten, abgesehen von etwas Gehüstel und Geräusper, noch immer nicht gesprochen. Schließlich sei Betty aufgesprungen, sagten beide, um irgendwo Kaffee zu holen. Als sie mit zwei Becks zurückkam, rauchte Marc eine Zigarette. Betty sagte, er habe so hingebungsvoll geraucht, als wäre dies das Einzige, was Sinn mache auf Erden. Sie habe sich neben ihn hingesetzt aufs vertrocknete Gras, das hier und da leicht nach Hundekot roch, und habe sich ebenfalls eine Zigarette erbeten. Nachdem Marc ihr Feuer gegeben hatte, habe sich aus dem Nichts ein Gespräch über das Rauchen entsponnen, wobei Marc nicht besonders freundlich gewesen sei — so Betty, Marc leugnete dies — und sie einsilbig darüber befragt habe, wie sie als Sängerin rauchen könne, also wirklich. Sie rauche nicht, habe sie geantwortet. Außer in unangenehmen Situationen. Marc hatte seine Bierflasche geschüttelt und einen großen Schluck genommen.

«Dir passt es nicht, dass ich bei euch gesungen habe, oder?«, hatte Betty gefragt.

Marc hatte geschwiegen, Betty gelächelt, aber sich insgeheim geärgert, nahm Tom an. Vielleicht war es deshalb geschehen, dass sie ihn plötzlich wütend angesehen und ihn überrascht hatte, wie sein Blick nämlich auf ihrem Gesicht ruhte, seltsam eindringlich und auf eine gewisse Weise verzweifelt. Und als eventuell aus ihrem Gesicht die Wut hinunterfiel und wohl ein Erstaunen zurück blieb oder sogar schon so etwas wie Zärtlichkeit (nahm Tom an), spürte sie an ihrer Hand, die im Gras lag, eine andere Hand. Dann ein tiefes Atmen und seine Stirn an ihrer, während er die Zigarette wegwarf, als wäre sie gar nicht mehr wichtig, bevor er Betty umfasste, mit beiden Händen ihr Gesicht, heftig, zu heftig vielleicht, und dann küssten sie sich. Und sicher verblassten der im aufgehenden Sonnenlicht glänzende Weiher und das Vogelgezwitscher und entfernten sich Park, Bäume und Himmel, nahm Tom an, denn es geschah öfter seither, wenn Betty und Marc am Küchentisch einander studierten, ihre Hände oder Gesichter, dass sie dasaßen wie auf einem kleinen Pünktchen inmitten von einem großen Nichts.

Nachdem seine Probe beendet war — ein Saxofontrio mit einem selbstverliebten Solisten namens Diedrich von Jagow, der bald sein Abschlussvorspiel absolvieren würde —, ging Tom nach Hause. Er hasste Saxofone, und er hasste die Saxofonisten, dachte er auf dem gesamten Nachhauseweg. Als er in die Knaackstraße eingebogen war und sich fragte, ob er noch ein einsames Feierabendbier trinken sollte, sah er Marietta, die neben der Haustür auf einem Steinvorsprung kauerte. Sie hatte ihr winziges Gesicht in beide Hände gestützt und die Augen geschlossen, so saß sie da, als warte sie auf ihr Schicksal. Natürlich wartete sie nur auf Marc. Tom blieb einige Sekunden auf dem Bürgersteig stehen und betrachtete ihr Gesicht: Es war blass, nichts von Sommer lag darin, es schien ihr kalt zu sein, denn sie hatte ihren Jackenkragen hoch aufgestellt. Vielleicht saß sie schon viele Stunden hier.

«Hallo«, sagte Tom.

Marietta bewegte erst den Kopf, öffnete dann die Augen.

«Hallo«, sagte sie.

«Hallo«, sagte Tom, obwohl er es ja bereits gesagt hatte. Marietta zog ihren Mund in eine Form, die einem Lächeln zumindest kurzzeitig nahekam. Dann atmete sie tief ein und stand auf, was sie einige Kraft zu kosten schien. Sie lehnte mit den Schultern an der Hauswand und versuchte erneut ein Lächeln, das sie nur einige Sekunden lang halten konnte, bevor die Mundwinkel unter der Last dieser Anstrengung zu zittern begannen. Sie wandte sich ab. Ihr Pferdeschwanz tanzte bei der heftigen Bewegung ihres Kopfes.

«Ich dachte«, ihr Gesicht schnellte auf die andere Seite,»ich dachte, ich besuche Marc. Tja, da bin ich«, sagte sie und spreizte ihre Handflächen in die Luft.

Tom räusperte sich, um ein Gefühl von Mitleid loszuwerden, das ihm im Hals saß und darin aufquoll, bevor er etwas sagte. Aber Marietta wusste bereits Bescheid. Wieder bebte ihr Mund, wieder drehte sie den Kopf zur Wand, indem sie begann, mit beiden Handflächen auf das Mauerwerk zu klopfen, als wolle sie der Zeit den Takt schlagen. Sie könne ja einfach noch ein bisschen hier warten, sagte sie, klemmte die Unterlippe zwischen die Zahnreihen, dann kicherte sie schrill, als wäre es ein Heidenspaß, in der Nachtfeuchte auf einem Steinabsatz zu sitzen und zu warten. Offensichtlich hatte sie sich noch nicht entschieden, ob sie Tom gegenüber ihre katastrophale Gemütslage offen zugeben sollte oder ob sie wenigstens versuchen wollte, ein wenig Fassung zu bewahren.

«Marc wird wohl nicht mehr kommen heute«, sagte Tom. Aber die Geigerin lächelte nur, als hätte er nichts gesagt. Dann plötzlich hob sie ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und ließ sie rechts und links neben ihren Hüften auf die Hauswand niederdonnern, zwei-, drei-, viermal, immer wieder, dass der Putz rieselte, und als Tom endlich erschrocken ihre Hände packte, die doch lieber Geige spielen sollten, sah sie ihn an mit weiten Augen, in denen nun das Wasser stieg und stieg. Er hielt ihre Handgelenke, die sich wehrten und wanden in seinem Griff, bevor die Kraft aus ihrem Körper sackte und dieses kleine Gesicht an seinem Hals lag (was er nun wirklich nie für möglich gehalten hätte) und sein Hemd nass wurde, so nass, dass er sich wunderte, wie viel Flüssigkeit eine so winzige Person nur mit den Augen produzieren konnte. Plötzlich machte sie sich los und starrte ihn an, als erkenne sie ihn erst in diesem Moment. Sie schien zu erschrecken. Sie riss den Blick noch ein wenig weiter auf, dann drehte sie sich um, ihr Pferdeschwanz peitschte ihm ins Gesicht, und sie lief davon, in die erstbeste Richtung anscheinend, denn an der Kreuzung blieb sie kurz stehen, hielt inne und eilte dann in die entgegengesetzte Richtung weiter.