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LIEBESEINSAMKEIT

Marc und Betty aber schienen durch irgendeinen Riss in der allgemeingültigen Dimension in einen anderen Raum, den hermetischen Einraum der Verliebtheit, geschwebt zu sein, in dem sie für den Außenstehenden zwar sichtbar, hinter der Hülle ihrer einander umschließenden Blicke aber dennoch unerreichbar waren wie in einem Plexiglasgehäuse, klopf, klopf, klopf, keine Antwort. Und dann waren sie fortan auch körperlich immer öfter abwesend, da sie sich tagelang in Bettys Wohnung in Kreuzberg aufhielten, aus Rücksicht, wie er annahm, um ihren alten Freund Tom in seiner Einsamkeit nicht zu stören. Sie hätten ihn aber gar nicht gestört. Lieber waren ihm Zimmer mit plexiglasgetrennten Parallelräumen, ausgefüllt von gehauchten Handküssen und Liebesversprechen, als solche, die leer standen und in denen die wenigen täglichen Veränderungen, die er beim Heimkommen wahrnahm — eine umgeblätterte Zeitung, ein angebissenes Brötchen, eine gespülte Tasse —, von ihm selbst stammten. Auch Sexgeräusche von nebenan waren ihm im Zweifel lieber, so dachte er, als diese Stille.

An manchen, besonders langsamen Tagen, wenn die Farbe der Hinterhöfe nur um ein paar Nuancen dunkler war als die des Himmels, hatte er das Gefühl, durch diese eine Liebe zwei Freundschaften verloren zu haben. Auch wenn, an manchen Tagen im August, ein großes Feriendunkelblau über der Stadt lag, durchquert von Vögeln, wenn die Schatten der wenigen Wolken auf dem heißen, hell erleuchteten Asphalt klebten und die Menschen sich anzogen, als wäre dieses Berlin ein einziges großes Schwimmbad, und durcheinandergingen und nach Sonnencreme rochen, weil sie noch schnell einen Ausflug machten, bevor der Herbst kam, dann wünschte sich Tom, dass diese erste Phase der Liebe bald vorüberginge.

Denn naturgemäß gibt es so etwas wie Gewohnheit im besten Sinn, und wie der Mensch sich an alles gewöhnt, an Erfreuliches und weniger Erfreuliches, an eine neue Arbeitsstelle, an das Wetter in unbekannten subtropischen Regionen, an Krankheiten, so gewöhnt er sich auch an die Liebe. Schon Ende September waren Marc und Betty wieder öfter in der Knaackstraße zugegen. Im Oktober zog Betty sogar übergangsweise bei ihnen ein, weil die Tochter ihres Vermieters, eines schwäbischen Gymnasiallehrers, der durch umweltverträgliche Aktien zu Geld gekommen war, zum Theaterwissenschaftsstudium nach Berlin ging und Eigenbedarf anmeldete. In einem Nebensatz nachts um zwei hatte Marc diese Neuigkeit verkündet, und Tom hatte, während er verkrustete Teller in die Spüle stapelte, angemerkt, dass sie schließlich ein Zimmer frei hätten, kein Mensch brauche ein so großes Abstellzimmer.

Also war sie gekommen mit ihren Kisten und Koffern, ihrem Rennrad, das fortan im Flur stand. Sie hatte Tom umarmt und gesagt, dass sie sich freue, mit ihm zusammenzuwohnen, auch wenn sie es jetzt noch weiter bis nach Dahlem habe, zur Medizin, zu den Hunden, aber es sei ja nur übergangsweise.»Du kannst so lange hier wohnen, wie du willst«, hatte Tom gesagt und es so gemeint.»Du musst halt nur kochen, putzen und abspülen, was Frauen so machen. «Betty hatte ein braunes zerrissenes Küchenhandtuch, das einmal weiß gewesen war, von der Spüle genommen und es Tom ins Gesicht geschleudert. Tom nahm einen feuchten Lappen, weil der besser flog, und Betty duckte sich, Marc aber nicht, der hinter ihr stand, was ihnen höchst komisch erschien.

Sie lachten viel in diesem Herbst. Obwohl das Licht knapp wurde und sich Novemberstimmung in der Stadt ausbreitete, fehlte ihnen kaum etwas. Marc hatte nach den Sommermonaten wieder begonnen zu komponieren,»wer verliebt ist, komponiert nicht«, hatte er Tom gesagt, halb lächelnd. Jetzt, noch immer verliebt, aber daran gewöhnt, tat er es wieder, ausschließlich am Schreibtisch, er brauchte kein Instrument dazu, schrieb an einem Orchesterwerk, wo im vierten Satz ein Klavier erscheinen sollte, so drückte er sich aus, unvermittelt, als Deus ex Machina, unerwartet wie eine Morgenröte mitten in der Nacht. Tom, der noch Hoffnung hatte, dass Marc es sich anders überlegen würde, und ohnedies nie begriffen hatte, was ein Deus ex Machina eigentlich sollte, spielte Bach-Fugen im Winter und die Goldberg-Variationen, was er sich schon länger vorgenommen hatte. Betty, in der Abstellkammer, absolvierte ihre gurrenden, eintönigen Gesangsübungen, ihr zischelndes Atmen stundenlang, ihre halbtonweise auf- und absteigenden Terz-Melodiechen, zu denen sie auf ihrem alten E-Piano die Grundtöne anschlug. Zwischendurch trafen sie sich in der Küche, aßen und redeten, tranken Kaffee, rauchten, auch Betty rauchte gelegentlich, die Sängerin, die sich noch nicht entschieden hatte, wo sie eigentlich hinwollte — in die rauchfreie Höhenluft des Operngesangs oder doch lieber in die dämmrigen Bars des Jazz.

Sie zweifelte viel. Sie fand ihre Stimme wenig voluminös, sie verglich sich mit den großen dramatischen Sängerinnen, die ein ausladendes Vibrato hatten, schwankend wie Meeresbrandung, während sie selbst hingegen eher ein glasklarer Gebirgsbach, aber einzigartig war, so dachte Tom, in der Farbe: klares, helles Wasser, je nach Lichtstimmung von einem unverwechselbaren Türkisgrünblaujadeocker, so fand er, und er sagte es ihr mehrmals, um ihre ewigen Zweifel zu zerstreuen. Sie aber konnte sich noch immer nicht vorstellen, dass man dasjenige, was man am meisten liebte auf der Welt, ungestraft als seinen Beruf bezeichnen durfte. Sie erwartete die Quittung für ihr Lotterleben (das in stundenlangen täglichen Gesangsübungen, Theorieunterricht an der Hochschule, Singen im Extrachor der Staatsoper, Tresendienst in einem mediterranen Feinkostladen, Hundeausführen und Vorlesungen an der medizinischen Fakultät bestand), sie erwartete existentielles Unglück oder zumindest die Strafe mangelnder Begabung, die sie auf den Boden gesicherter Tatsachen zurückholen würde, auf den Boden eines ordentlichen Berufs, der unschön ist, aber ein Beruf.

Marc verstand das nicht. Es war ein fundamentales Nicht-Verstehen: Er fragte sie, ob es ihr um Geld gehe, ob sie Angst habe, mit der Musik kein Geld zu verdienen. Sie wiegte den Kopf. Das Geld war es nicht allein, nicht vor allen Dingen. Marc meinte, eben, um Geld könne es nicht gehen, nicht in erster Linie, Geld brauche man, sicher, aber man brauche nicht viel, und das bisschen, das man leider doch brauche, könne man sich immer irgendwie beschaffen, das Geldverdienen komme an allerletzter Stelle im Leben. Wieder wiegte Betty den Kopf, es gehe ihr auch nicht unbedingt darum, sagte sie, eher um eine moralische Grundsatzfrage, die sich darum drehe, ob man verpflichtet sei, weil man nun einmal am Leben war, einen gewissen Ernst dieses Lebens auch anzuerkennen, Verpflichtung, Beruf, Zwang, Kinder vielleicht, weil dies nun einmal zu diesem Leben dazugehöre, ja, weil dieses Leben vielleicht letztlich aus diesen Dingen sich zusammensetze: Verpflichtung, Beruf, Zwang.»Quatsch«, sagte Marc,»Blödsinn«, dabei schüttelte er langsam den Kopf und lächelte verwundert und hielt ihre beiden Hände, während er ihr gegenübersaß am Küchentisch, und es sah aus, als wollte er mit seinen Augen ihre Blicke trinken, wenigstens ihren Mund küssen. Stattdessen strich er ihr eine glänzende Haarsträhne aus der Stirn, hinters Ohr, und sie lächelte jetzt auch und neigte ihre Wange in seine Hand.