Tom schwieg. Er hatte die Arme vor der Brust verkreuzt und sah auf seine Knie hinab.
«Ich glaube«, sagte Marc,»es tut dir nicht gut. Ich glaube, es tut niemandem gut, wenn einer alles investiert, sein ganzes Vermögen und der andere aber nur fünfzig Pfennige, die er auf seinem Nachttischchen gefunden hat oder in einer Ecke, die die Putzfrau beim Staubwischen zufällig übersehen hat.«
Tom atmete jetzt tief ein und wieder aus. Er begriff nichts von alldem, er begriff am allerwenigsten, dass es Marc war, der all das redete.»So ist das«, sagte er langsam.»Du meinst also«, sprach er nun mit einer Stimme, die besonders leichtfüßig klingen sollte, auf halbem Weg zwischen Verwunderung und Ironie dahintänzelnd,»du meinst, dass Liebe so etwas ist wie ein Sparkassenbüchlein, ein Vertragsverhältnis, wo sich alles rechnet, aha«, er nickte, um sein Verstehen zu signalisieren, obwohl er nichts verstand,»ein Geschäftsverhältnis, wo unterm Strich ein Gewinn rausspringen muss, oder man löst den Vertrag und kauft sich einen mit besserer Rendite. Jeder trägt jeden Tag fein säuberlich in das gemeinsame Kontobüchlein ein, was er wieder alles investiert hat, nur ja nicht zu viel und ja nicht zu wenig, denn unterm Strich muss es ja stimmen, weil es sich rechnen muss, alles in allem, und das ist dann also für dich Liebe. «Tom sprach noch immer sehr ruhig, konnte aber, während er so ruhig war, gar nicht begreifen, was sich ereignete, dass sie sich allem Anschein nach stritten, denn obwohl er äußerlich die Gelassenheit selbst war, pochte sein Herz vor Aufregung bis in die Schläfen.»Interessant«, fügte er hinzu, wobei seine Stimme ein wenig zitterte.
Marc drehte sich jetzt wieder zum Fenster.»Ich hätte mir denken können, dass du es falsch verstehst«, sagte er.
«Ach. Wie hätte ich es denn sonst verstehen sollen?«Er sah, wie Marcs Rücken zusammenzuckte. So schneidend war ihm sein Ton nun auch wieder nicht vorgekommen. Marc drehte sich abrupt zu ihm, öffnete seinen Mund, sah dann aber zur Decke, als müsste sich dort eine Antwort finden. Er ging ein paar Schritte in Richtung Gesangskabine, blieb auf halbem Weg stehen, die Hände in den Taschen.
«Ich will nur, dass es dir gutgeht, es ist mir doch scheißegal, wie vernünftig es ist, und wenn sie hundert wäre und zehn Ehemänner hätte, wär mir doch egal. Ich meine nur, dass du dich nicht zum Idioten machen lassen sollst. Es kommt mir nicht besonders gerecht vor, das ist alles.«
Tom reckte seinen Kopf, um dem letzten Satz nachzuhorchen.»Gerecht, nicht gerecht meinst du?«, sagte er.»Und was du mit Marietta machst, das ist wohl gerecht?«
Marc senkte den Kopf, die Beine standen breit nebeneinander.»Ich hab ihr nie was Falsches versprochen«, sagte er leise.
«Anne hat mir auch nie was versprochen, nichts. So ist es nun einmal.«
Marc nickte, als hätte er in diesem Moment etwas begriffen. Wieder drehte er sich zur Fensterfront, strich sich durchs Haar, nickte.
«Man kann sich nicht aussuchen, wen man liebt«, fügte Tom an. Er kam sich relativ weise vor, es klang gut und war ein passender Schlusssatz. Marc aber, obgleich in moralischer Hinsicht unterlegen, sah das Thema offenbar nicht als beendet an.»Es tut mir leid«, sagte er leise, noch immer mit dem Rücken zu Tom.»Du bist mein Freund, ich glaube, mein einziger Freund, ich glaube, ich hatte überhaupt noch nie einen«, er atmete, senkte den Kopf, hob die Schultern an und ließ sie wieder fallen.»Ich weiß nicht … ach, vergiss es, ich will einfach, dass es dir gutgeht.«
Tom, der die ganze Zeit bewegungslos und hochgerade auf seinem Stuhl gesessen hatte, zögerte einen Moment, dann stand er auf, ging zum Fenster und stellte sich neben Marc, so dass sich ihre Oberkörper fast berührten. Wie Marc sah er schweigend auf den regennassen Hof hinab, wo ein Kleinkind im gelben Regenmantel in einer Pfütze hüpfte.»Es geht mir gut«, sagte Tom. Er sah auf das gelbe hüpfende Licht in der Dunkelheit des Hofs.»Es ging mir vielleicht nie besser. «Er stach seinen Ellbogen in Marcs Seite.»Bevor wir ins Altersheim gehen, mach ich bestimmt Schluss«, sagte er. Das sollte ein Witz sein.
«Du kannst sie aber auch mitbringen«, sagte Marc. Das sollte ebenfalls ein Witz sein. Sie schielten einander von der Seite her kurz ins Gesicht. Tom dachte, dass irgendwelche Frauen sich jetzt bestimmt umarmt hätten, sie aber grinsten nur, rauchten am offenen Fenster eine Zigarette, verkabelten dann schweigend ihre Instrumente und Mikrofone und machten Musik, zu zweit, die halbe Nacht lang, bis ins graue Morgengrauen, das sie vollkommen überraschte.
KURZER DIALOG
Tom: Ich glaube, ich habe mich verliebt.
Anne: In wen?
Tom: In dich.
Anne: In was?
Tom: In dein Haar, wenn es, wie jetzt, über deine Schultern fließt, in deine Augen, wenn du, lächelnd, sie schließt, sie dann öffnest, deine Hände, die so harmlos dir im Schoß liegen können. (Küsst ihre Hände, sieht ihr dabei in die Augen.)
Anne: Ich liebe dich auch.
Tom: Ich weiß.
Anne: Du weißt? (Ihre Finger tief in seinem Haar. Mit seinem Kopf, geschlossene Augen, folgt er den Bewegungen ihrer Hand.)
Tom: Ich weiß. Wie sollte ich es nicht wissen.
Anne: Es wäre besser … ich wollte nicht, dass du es weißt.
Tom: (Küsst sie lange und tief.)
Anne: Wir können verreisen, mein Mann ist beschäftigt, wir können nach Paris, ein paar Tage, du und ich, wie die Verliebten. Auf Notre Dame werden wir zwischen den Steinmonstern Tauben füttern und stehen Hand in Hand und blicken über das Geflecht von Dächern im Abenddunst, das uns nichts angeht, oder wir liegen eine Woche lang im zerwühlten Hotelbett, geweckt aus unseren Träumen nur vom Getös der Kathedrale, Weinflecken auf den Kissen, unendliche Nachmittage, und du liest mir aus dem Reiseführer vor, Gedichte von Baudelaire.
Tom (legt seinen Kopf in den Nacken, atmet ein, Untertext): Ja! (Stellt sich vor, sie einmal im frühesten Morgenlicht zu sehen, ganz nackt, bedeckt nur von seinen Blicken, ihr Haar auf das Kissen gebreitet, noch voller Nacht, ein Bein angewinkelt, ausgestreckt die Arme,»komm«.)
Anne: Was ist?
Tom: Nichts, ich bin verrückt nach dir.
Anne: Du bist verrückt!
(Leider nur ein Traum).
SCHNEECHAOS
Zu Silvester hatten die ehemaligen» Hinterhofjungs«, die an diesem Abend» Die Milchmädchenrechnung «hießen, ihren ersten offiziellen Auftritt mit Betty, vor ungefähr zwölf Zuhörern. Sie spielten in einem kleinen Club in der Ackerstraße, wo eine riesige Diskokugel ihr Lichtgeflimmer über die mit roten Stoffen ausgeschlagenen Wände drehte und auf der schummrigen, ebenfalls rotplüschig verhangenen Bühne ein antikes verstimmtes Klavier stand, dem der Deckel und zwei Tasten fehlten, und darüber, leise klirrend, ein falscher Kristallleuchter schwebte. Betty hatte einen Stapel alter Hörspielplatten auf dem Flohmarkt gekauft,»Winnetou«,»Schatzinsel«,»Fünf Freunde«, von denen sie Samples zur Musik einspielte, indem sie auf zwei alten Plattentellern minimalistische Sprachebenen bastelte, die meist nur aus ein oder zwei Sätzen bestanden, wie» du bist /du bist /du bist frei, und die anderen Bleichgesichter sind es auch«, oder:»Der Sohn des großen Manitu ist tot«, die endlos wiederholt und übereinandergeschichtet wurden. Zwischendurch spielten sie alte Countrystücke und ein paar Songs von Nick Drake, zu denen das Publikum ekstatisch tanzte, indem es die Hände mit den Bierflaschen und Zigaretten darin über den Köpfen kreisen ließ, schließlich war Silvester, und man hätte wohl auch nach gregorianischen Chorälen getanzt.
Im neuen Jahr fand Betty endlich eine Wohnung, Ein-Zimmer-Küche-Bad, gar nicht teuer. Sie zog ein und zog wieder aus. Dazwischen vergingen kaum vier Wochen. In diesen vier Wochen kehrte eine quadratische Leere in die Abstellkammer ein, außerdem in die Küche eine eher längliche und eine dritte schmale, lange Leere in den Flur. Bettys Schallplatten fehlten und ihre beiden Kochbücher, außerdem die mickrigen Kresseund Basilikumtöpfe in der Küche, die unausgepackten Kisten, das Rennrad im langen leeren Flur und auch ihr Gesang, außerdem oft auch Marc. Nach vier Wochen aber war alles wieder da: Kisten, Kochbücher, Basilikum, Rad, Gesang, Marc und Betty. Weil die Wohnung wirklich groß genug war, mit diesen riesigen vier Zimmern, dem Balkon und der Küche plus Duschkabine, Klo halbe Treppe, und weil sie ohnehin am liebsten zusammen herumsaßen. Nur die Kresse fehlte, weil eingegangen.