Im Wohnzimmer angelangt, standen sie einander gegenüber, und Anne Hermanns’ Blick glitt von seinem Gesicht an seinem Körper entlang hinab bis zu den Füßen und wieder hinauf, während sie noch immer weitersprach, aber langsamer jetzt, mit gedehnten Silben, der Verkehr, bei Schnee unerträglich, aber es sei ja doch auch immer wieder erstaunlich, wenn die Natur mit Macht, so sagte sie, sich zurückmelde und demonstriere, dass sie gewiss nicht abgeschrie…»Thomas, Sie sind ja ganz eingeschneit«, stellte sie plötzlich fest. Er schwieg, sah sie nur an. Neben seinen Schuhen bildeten sich bereits kleine Pfützen auf dem Parkett.
«Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, dann verschwand sie. Fünf Minuten vergingen, in denen Tom nichts tat, als breitbeinig dazustehen und darauf zu achten, dass sich die Pfützen möglichst wenig vergrößerten. Mit einem Stapel Kleidung auf dem Arm kehrte sie zurück.
«Hier, das ist von meinem Mann, das wird Ihnen vermutlich etwas zu groß sein, aber besser, als wenn Sie sich erkälten.«
Als er noch immer schwieg, sagte sie:»Sie wissen ja, wo das Bad ist. «Er wusste es, nahm die Kleider von ihrem Arm und trottete den Korridor hinab zum Badezimmer. Während er sich auszog, überlagerten sich gewisse Bilder in seinem Kopf, Betty mit den schmelzenden Schneeflocken auf dem Gesicht, ihr warmer atmender Körper, Anne auf der Terrasse, wie sie wohl etwas gesehen oder doch nichts gesehen hatte, dann tauchte er selbst im riesigen, bis zum Boden reichenden Badezimmerspiegel auf, mit zu langen Cordhosen, einem weiten karierten Hemd und Pullunder (ein Weihnachtspullunder, wie er sofort sah) von Dr. Volker Hermanns. Als er die Badezimmertür öffnete, stand Anne davor. Er habe ja noch ganz nasses Haar, stellte sie fest, indem sie sein lächerliches Aussehen völlig überging, nahm ein Handtuch von einem der Regale und begann, seinen Kopf abzurubbeln, dabei sprach sie wie zu einem Kind, in tröstendem Singsang, als hätte er sich das Knie aufgeschlagen. Sie sprach von dem Klavierstück, das sie bis heute hatte üben sollen, das sie mochte, denn es war von Mozart, und von Mozart mochte sie ja sowieso alles. Sie rubbelte und summte die Melodie vor sich hin, sie rubbelte auch dann noch, als Toms Haare sich in einem Zustand befanden, da Rubbeln nicht mehr sehr viel Sinn ergab. Er hielt ihre Arme fest, das Handtuch fiel hinter ihm auf den Fußboden, er musste sich eine Haarsträhne aus der Stirn blasen, um sie ansehen zu können, ihre grauen Augen groß auf ihm, aber flüchtig. Sie wand sich aus seinem Griff, drehte sich um und sagte:»Kommen Sie!«Jetzt redete sie nicht mehr, als sie ihm voranging, und sie summte auch nicht. Sie strich am Flügel mit dem aufgeschlagenen Mozart vorüber, indem sie ihre Finger leicht über das glänzende Holz gleiten ließ, ging an der Sitzgruppe vorbei, durch die geöffnete Flügeltür, am Esstisch vorüber, dann auf den Flur hinaus und die breite, flach ansteigende Marmortreppe hinauf, sie schritt in gleichmäßigem Rhythmus, einen Fuß in schnurgerader Linie vor den anderen setzend, schritt im oberen Stockwerk durch ein offenes Zimmer mit Bücherregalen und einem Kamin, durch einen Flur, dann öffnete sie lautlos eine Tür in einen Raum, riesig und beige, darin ein Doppelbett und zart verhangene Fenster zum Garten: das Schlafzimmer. Von draußen klang gedämpftes Bellen der Hunde. Sie öffnete die Vorhänge. Mit einem Surren legte sie den Himmel frei. Es standen weiße Bäume davor. Fallender Schnee in der Dämmerung, vom Schein der Gartenlaternen beglänzt. Dann drehte sie sich zum ihm und begann, sich auszuziehen. Ihr Blick löste sich nie von seinen Augen, nur ein Zittern der Lider dann und wann unterbrach die Verbindung, das schnelle Abstreifen ihres Pullovers. Sie öffnete die Bluse, an der beigefarbene Mohairfusseln klebten, von oben nach unten, einen Knopf nach dem anderen, ein rasches Fiepen des Reißverschlusses ließ ihren Rock nach unten gleiten, noch immer sah sie in seine Augen. Er wagte es kaum, seinen Blick auf ihren Körper sinken zu lassen, schließlich der BH, vorn zu öffnen, und die Strumpfhose, die sie, auf einem Bein balancierend, etwas wankend, auszog, den Kopf zu ihm erhoben, zuletzt der Slip, der hinabglitt und das dunkle Dreieck zwischen ihren Beinen freilegte, wo er nun doch hinsah, auf den Bauch, der flach war und auf dem der Abdruck des Höschens als rötlicher Streifen verlief, auf einer Haut, die nicht mehr ganz glatt war, sondern weich und uneben, gewölbt um den Nabel. Sie stand hochaufrecht, ganz nackt nun, um sie herum die verstreuten Kleidungsstücke, leblose Häufchen. Im Zwielicht des Fensters stand sie, mit herabhängenden Armen, Handflächen zu ihm gedreht, mit ihren schweren Brüsten, senkrecht gestreift von einzelnen Haarsträhnen, während es an ihrem Körper vorbeischneite, und ihre Augen zitterten, und etwas wie Angst glomm darin. Er liebte sie wirklich.
Während er sich auszog allerdings, konnte er das Gefühl nicht ablegen, Volker Hermanns auszuziehen, hier in seinem Schlafzimmer, und kurz überlegte er, ob sie ihn absichtlich so verkleidet hatte. Hastig streifte er dessen weichen Kaschmirpullunder über seinen Kopf, riss dessen Hemd auf, gleichzeitig trat er zu ihr, legte seine Hand auf ihren Bauch, sank auf die Knie, küsste ihre Hüften. Er versuchte, sie ganz zuzudecken mit Küssen, damit sie nicht fröre. Dabei kippten sie auf den Fußboden, den ein weißer weicher Flokatiteppich bedeckte, und ihr Haar, um sie ausgebreitet, verschwand fast darin.
Als sie später doch im Bett lagen und er mit den Augen die Bewegungen seiner Finger auf ihrer Haut verfolgte, als müsse er sich ihrer vergewissern, da er noch immer nicht glauben konnte, dass sie nackt neben ihm und nicht verschwunden war, dass sie ihn stattdessen ansah und einfach liegen blieb, da sagte er:»Wir sollten uns duzen.«
«Wir sollten es nicht übertreiben«, sagte sie, ihr Lächeln glitzerte dunkel in den Seidenkissen,»aber von mir aus. «Sie schloss die Augen und wartete, bis er sie küsste.»Das war aber kein Bruderkuss. «Sie zeichnete mit ihrer Fingerkuppe Linien auf sein Gesicht.»Rauchst du nicht?«, fragte sie dann.
«Doch, warum?«
«Ich würde schrecklich gern eine rauchen.«
Da die verstreuten Kleider im Schlafzimmer nicht seine eigenen waren, sondern diejenigen ihres Gatten, befanden sich darin naturgemäß nicht seine Zigaretten. Also musste er ins Badezimmer hinunter und sie holen. In der Tür blieb er stehen, zögerte.»Du bleibst doch hier?«
«Natürlich«, sie lachte, als wäre seine Frage völlig abwegig, dann, plötzlich ernst:»Wo sollte ich denn hin?«
Als er mit den Zigaretten wiederkam, hatte sie Kerzen angezündet. Draußen schneite es nicht mehr. Die vom Licht der Gartenlaterne beglänzten Baumwipfel standen weiß und unbewegt im dunklen Bild des Fensters.
«Und dein Mann?«Sie lagen nebeneinander und rauchten, die Hände ineinander verkreuzt auf der Bettdecke.
«Er kommt erst morgen Mittag.«
«Wir haben Zeit bis morgen Mittag?«
Sie lächelte, blies den Rauch in die vom Kerzenschein belebte Dämmerung des Zimmers.»Ich habe ewig nicht geraucht!«
«Es steht dir.«
«Ich bin alt«, sagte sie.
Er lachte.»Du bist uralt.«
«Bald bin ich uralt, du hast recht.«
Er setzte sich auf, nahm ihr die Zigarette aus der Hand und küsste sie auf den Mund, dann auf die Nase, die Stirn. Und sie sah aus wie eine wilde Studentenführerin mit den Haarwogen auf dem Kopfkissen, mit den geschlossenen Augen, der Zigarette, die sie sich wieder genommen hatte und die nun in ihrem Mundwinkel lag, an der sie zog, dass die Glut knisterte, mit nachdenklicher Stirn.
«In hundert Jahren sind wir beide tot«, sagte Tom. Sie lachte, als hätte er einen Witz gemacht, dabei war es ja wohl eine zutreffende Feststellung. Sie streckte ihre Hand aus, weich, und streichelte ihm den Nacken. Dann lag sein Kopf an ihrer Brust, zwischen Schulter und Hals, und er roch ihren Duft, meinte immer so liegen zu können und konnte es doch nicht glauben. Wenn sie sprach, fühlte er das Vibrieren ihrer Stimme in ihrem Körper, sie redeten beide sehr leise, als hätten sie Angst, etwas mit ihren Geräuschen zu verscheuchen. Er wollte sie tausend Dinge fragen, fürchtete aber, diese empfindliche, hauchdünne, eisdünne Einvernehmlichkeit zwischen ihnen zu gefährden, zu zerbrechen, wenn er es täte.