«Warum kann es nicht immer so sein«, flüsterte er nun doch. Sie schwieg und streichelte seinen Kopf.
«Liebst du ihn noch?«, fragte er. Ihr Kinn lag an seinem Kopf.
«Wir sollten nicht über ihn reden«, sagte sie.
«Also reden wir über uns.«
«Wenn du willst.«
«Zeigst du mir deine Fotografien?«
«Ein anderes Mal vielleicht.«
«Ich würde gern alles über dich wissen«, flüsterte er.
«Man weiß nie alles über jemand.«
Sein Ohr an ihrem Herz. Sie schwiegen.
«Du hast wunderschön gespielt«, sagte sie plötzlich.»Nicht nur den letzten Satz.«
Er spürte den Impuls, sich aufzurichten, sie anzusehen, aber er blieb liegen, an ihrem Hals.
«Du warst also doch da. «Er fühlte an seinem Kopf, dass sie nickte.
«Ich wusste es«, sagte er, und es kam ihm dies alles wie ein Traum vor, fehlten nur Notre Dame, Akkordeonmusik.
«Erzähl mir von deinen Kindern«, bat er.
«Warum?«, flüsterte sie, fast ohne Stimme.
«Weil du sie liebst.«
Sie seufzte, ihre Brust und mit ihr sein Kopf hoben sich, sanken wieder. Dann schob sie ihn weg, setzte sich auf, Blick zum Fenster, die Arme um den Oberkörper geschlungen.»Es ist eine Illusion, Thomas«, sagte sie.»Nichts bleibt. «Er sah ihren Kopf von der Seite, die großen Augäpfel, die, wie er jetzt dachte, etwas hervorstanden. Der Schein der flackernden Kerzen tastete unruhig über ihre Wange, sie blinzelte mehrmals, bevor ihr Blick fast regungslos, sanft wurde, als hätte er bereits alles gesehen, während sie weitersprach.
«Wenn man jung ist, dann ist das Leben ein Gewirr von tausend Möglichkeiten«, sagte sie,»ein Gewimmel von tausend Wegen, einer vielversprechender als der andere, und du denkst, dass du sie alle gehen kannst. Wenn dir einer nicht gefällt, kehrst du um und suchst dir einen anderen, alles ist hell und freundlich. Alle Türen sind offen, dahinter ist Licht. Je älter du wirst, desto mehr Türen fallen zu, Wege verschwinden, sind einfach nicht mehr da, oder du findest sie nicht wieder, wie im Märchen, wo plötzlich meterhohe Dornbüsche wuchern. «Sie lächelte jetzt. Ihre Stimme klang tiefer als sonst, gerader, mit weniger Singsang, sie passte plötzlich zu ihrem Blick.»Und die Zeit rast ja«, fuhr sie fort,»sie überholt dich auf deinem Weg, denn du trittst auf der Stelle, nur dass du immer älter wirst, es ist eher so, als ob man unter deinen Füßen den Boden wegzieht, immer weiterzieht, obwohl sich nichts ändert, oder es ändert sich zum Schlechteren, fast unmerklich ändert sich jeden Tag alles zum Schlechteren, du kannst die Zeit nicht zurückholen, du verlierst immer mehr Illusionen, jeden Tag eine andere kleine Illusion«, sie senkte den Kopf, rieb mit dem Kinn über ihre Schulter,»und es ist nun einmal so, es ist ein Trugschluss: Deine Kinder sind keine Lebensversicherung, sie können deine Leere nicht ausfüllen, es überfordert sie, kein Kind kann seine Eltern retten, und niemand kann das Leben seiner Kinder leben. «Sie schwieg, ihr Gesicht wandte sich in die Dunkelheit des Gartens.
«Aber du liebst sie, das ist das Wichtigste«, sagte er.
Zwei stille Minuten vergingen.
«Wir verlieren, was wir lieben«, flüsterte sie. Drehte sich zu ihm, ihre Augen glitzerten, vielleicht das Kerzenlicht, sie nahm seinen Kopf in beide Hände, zog ihn zu sich und küsste ihn, ließ dann eine Hand unter das Laken gleiten, über seine Brust, seinen Bauch, sie tauchte mit dem Kopf hinab, eine köchelnde Welle floss über seine Hüften, aber bevor er kam, zog er sie zu sich, er wollte ihr Gesicht betrachten, als er in sie eindrang, sie saß auf ihm und schloss keineswegs die Augen, sondern sah ihn an, während sie sich bewegte, Hände in seinem Haar, die Blicke ineinander versenkt, dann hielten sie beide inne, er hörte auf zu atmen, sah ihre halb geschlossenen Lider, die sich dann weit öffneten, als staunte sie, die Brauen, die sich zueinander hoben, während sie ihr Becken gegen ihn presste mit einem tiefen Seufzer, ihr Bauch flatterte, hob und senkte sich in Wellen, ihr Körper spannte sich und entspannte sich, sie umarmten sich heftig, blieben noch lange schweigend so liegen. Es war das letzte Mal.
IHR BLÜMLEIN ALLE
Aber es war ja kein Traum, stellte er fest, es konnte durchaus kein Traum sein, denn es hingen ja seit jener Schneenacht die Kleider von Dr. Volker Hermanns in seinem Schrank, da er am Morgen die eigenen nicht gefunden hatte. Nicht im Badezimmer, wo er sie ausgezogen hatte, nicht im stillen Flur, nicht im Wohnzimmer, wo sich das Tageslicht als eine Reihe blasser Quadrate hinter den Vorhängen abzeichnete. Eine Ahnung von ihrer Einsamkeit bekam er da, wie er in der riesigen Diele stand und vergeblich seine Kleider suchte, in einer immensen Stille, in der nur ein paar undefinierbare elektrische Geräusche klackten und fiepten, aus der Küche vermutlich, das Surren irgendwelcher Zeitschaltuhren. Gefunden hatte er dagegen einen Zettel auf dem Küchentisch, das Frühstück sei für ihn, schrieb sie, Brötchen, Ei, Kaffee in der Warmhaltekanne, sie küsse ihn, habe aber einen dringenden Termin, außerdem müsse sie für die nächsten zwei Wochen verreisen. Umarmung, Anne.
Vierzehn Tage später, als der Schnee längst getaut war und Tom von der Hochschule nach Hause kam, hatte er einen Anruf auf dem AB. Es war ihre Stimme, aber die alte Anne-Hermanns-Lage, das hohe Säuseln, das ihm sagte, dass sie leider keinen weiteren Klavierunterricht nehmen könne, zeitlich gesehen. Es tue ihr leid, diese Nachricht, so unverbindlich jetzt leider, nur am Telefon, auf dem Anrufbeantworter, aber sie erreiche ihn nicht, sprach sie sehr ausführlich, siezte ihn,»Herr Holler«, bis sie vom Piepen unterbrochen wurde. Anschließend hatte sie erneut angerufen, nur um sich zu verabschieden, sagte sie, sie sei unterbrochen worden.»Alles Gute dann, auf Wiedersehen. «Klacken.
Marc, der die Anrufe bereits vor ihm abgehört hatte, stand in der Tür, Arme vor der Brust verschränkt, starrte auf den Fußboden. Als Tom ihn fragend ansah, als erwarte er von ihm eine Erklärung, hob er die Schultern, kippte seinen Kopf in den Nacken, verbog die Augenbrauen, offensichtlich wusste er nicht, wohin damit, öffnete den Mund, aber statt zu reden, atmete er nur tief ein.
«Sollen wir ein Bier trinken gehen?«, fragte er endlich. Aber Tom schüttelte den Kopf, ging an ihm vorbei und lief zunächst ins Wohnzimmer, blieb dort in der Mitte des Raumes stehen, ohne zu wissen, was er da eigentlich wollte, Blick an die Wand, die sie noch immer nicht renoviert hatten, diese notdürftig übertünchte Rillen-Tapete, und er dachte an nichts, nur daran, dass er eigentlich nicht wusste, was er hier im Wohnzimmer sollte, aber er spürte, dass sich dieser Augenblick unter die Oberfläche seines Gedächtnisses schieben würde wie eine Tätowierung. Dann stolperte er in sein Zimmer. Später hörte er, wie Betty nach Hause kam, er hörte sie mit Marc leise sprechen, dann ging wieder eine Tür, jemand verließ die Wohnung. Kurz darauf ein Klopfen. Er sagte nichts, saß an seinem Schreibtisch, sah es und sah es auch wieder nicht, wie sich die nachtschwarze Pappel vor seinem Fenster im Wind beugte, die kahlen Zweige, wie ein Reisigbesen, dahinter die gegenüberliegende Häuserreihe mit all den Löchern aus Licht. Es klopfte wieder. Marcs Stimme, er öffnete die Tür:»Hey Tom, wir trinken jetzt mal ein Bier zusammen. «Als Tom seinen Arm auf der Schulter spürte, vergrub er das Gesicht in den Handflächen, stöhnte, was klingen mochte wie Schluchzen. Er stand auf, nahm die Jacke, die Marc ihm hinhielt, und sie gingen in die Nacht und liefen gegen den Wind, bis sie eine Kneipe fanden, in der sie schweigen konnten. Und Bier trinken und rauchend aneinander vorbeisehen. Und schließlich redeten sie. Marc erzählte komische Geschichten, von denen der Himmel wusste, wo er sie in diesem schwierigen Moment hernahm, über eine Gastprofessorin in Tonsatz namens Hildegard Weisz, Amerikanerin, die Haare hatte, wirklich wie Flachs, schwarze Schmetterlingsbrille und derart winzige Hände, dass sie auf dem Klavier nicht einmal eine Oktave greifen konnte, außerdem hatte sie ein Hündchen, hatte es stets dabei, einen kleinen tauben Yorkshire, und zwar saß er nicht etwa in einer Handtasche, sondern in einer glänzenden Papiertüte mit Gucci-Aufschrift, die sie, wann immer sie spielte, auf dem Klavier abstellte. Hildegard (er sagte amerikanisch» Hildegaard«) Weisz. Außerdem gab es die gute Nachricht zu vermelden, dass Marc endlich das Sockenproblem gelöst habe, das sich seit Bettys Einzug noch verschlimmert hatte. Er habe eine Erfindung gemacht, die er sich nur noch patentieren lassen müsse, dann wären sie reich: Es war eine Wäscheleine, die man an zwei Spindeln vor und zurück durch den Flur spannte, die man also von einer Stelle aus bewegen konnte und an der — und nicht etwa in getrennten Kommoden — die Haushaltsmitglieder ihre Socken, hängend, aufbewahrten, wodurch jeder durch ein Ziehen am Seil den ganzen gegenwärtigen Sockenbestand an sich vorübergleiten lassen und die jeweils passenden Einzelstücke dazuhängen konnte. Obwohl er es wirklich nicht wollte, musste Tom lachen:»Und wie findet dann jeder seine?«