Выбрать главу

Anschließend ging er zu Bett. Er verbrachte lange Jahre im Bett, beobachtete, wie Wolken vor seinen Fensterkreuzen vorüberzogen, je nach Windstärke, schnell, mittel, langsam. Es musste ein sehr schöner Sommer sein. Kaum Regen. Einmal sah er, wie eine Wolke, rot hinterleuchtet vom bronzenen Abendhimmel, tief hängend, am Dach gegenüber feststeckte. Sie bewegte sich nicht, klemmte mitten im Himmel. Als es endlich weiterging, als sie kurz hinter der Mauer verschwand, dann im linken Fensterkreuz auftauchte, merkte er, dass etwas geschehen war, von dem er nie geglaubt hätte, dass es je geschehen könnte. Sein Schmerz war weg. Aus Gewohnheit oder aus Trauer über den verlorenen Schmerz weinte er noch ein bisschen, dann stand er auf.

DER LIEBESSCHEINWERFER

Die Liebe, denkt Tom Holler im Aufwachen, ist ein Scheinwerfer. Sie leuchtet denjenigen an, der geliebt wird, setzt ihn in strahlendes vorteilhaftes Licht, und alles um ihn wird dunkel, unkenntlich, uninteressant. Nur der, der geliebt wird, steht auf einer Lichtinsel inmitten der Nacht. So wie der Mond vom Licht der Sonne erst zum Mond gemacht wird, so wird der Geliebte vom Liebenden gemacht. Und auch die Sonne wird erst zur Sonne, wenn wir, das Sonnensystem, sie betrachten, sie, die ohne uns nur ein Steinbrocken wäre, einer mit viel brennendem Helium, zugegeben, aber ein Steinbrocken wie Milliarden andere auch in diesem Universum. Erst wenn wir sie ansehen, wird die Welt zur Welt. Gott, was sind wir wichtig!

Tom findet sich in einem Bett. Meeresrauschen. Diffuses Licht drängt durch die Jalousien, neben ihm liegt eine Frau, seine Hand in ihrer. Egal. Die Liebe, sie ist ein Scheinwerfer, denkt er, von uns selbst zu steuern, und es ist ihm ein Wunder, wie er jahrelang Betty nicht hat sehen können neben Anne. Nicht im Hermanns-Garten, nicht jeden zweiten Tag in der dampfvernebelten Dusche, nicht am Küchentisch, Brötchen mit Marmelade essend. Es ist ihm ein Rätsel, wie Betty eine ganz normale Frau hat sein können, Tag für Tag, Jahr um Jahr, eine Freundin, eine, die einem nah ist, die man liebt, sicher, nicht aber anstrahlt in der Art eines Scheinwerfers. Ein Schwenk nur, ein minimaler Richtungswechsel, und alles wäre anders gewesen.

Mit halb geöffneten Lidern betrachtet er die Frau in seinem Bett. Unter dem Faltenwurf des Lakens erhebt sich das Relief von Hüfte, Beinen, Füßen. Ein schmaler Körper, offenbar schlafend, flammenhaarig. Ihre Hand liegt in seiner, eierschalenfarbig, schmal und zerbrechlich wie Eierschalen.

Die Frage: Was ist passiert? Trotz der allerernstesten Absicht weiterzuschlafen, stellt sie sich. Die Antwort scheint nahezuliegen, bedenkt er und überprüft mit geschlossenen Augen den Geruch ihres Parfums auf seinem Kopfkissen: Er, Tom Holler, mit einer Frau im Bett, wann hat das zuletzt stattgefunden? Fast will er stolz sein. Trotzdem schwebt die Frage im dämmrigen Raum wie das Morgenlicht, das sich von der Jalousie nicht länger zurückhalten lässt und durch die Ritzen strömt: Was genau ist passiert? Das Meerestosen vor dem Fenster hat sich in seinem erwachenden Ohr längst als Autoverkehr zu erkennen gegeben, lärmender, knatternder, puckernder Verkehr auf Kopfsteinpflaster, der aber an Meeresrauschen erinnert.

Passiert ist, denkt er langsam, in seinem Gedächtnis herumschleichend, während seine Hand noch immer in ihrer liegt, als fürchte er, sie zu wecken, bei einer schnelleren Gedankenbewegung, passiert ist zunächst, dass man sich, wie verabredet, zur Stadtbesichtigung getroffen hat. Auf der Piazza de Ferrari, am Brunnen, der seine tosende Wasserfontäne in den blauen Himmel stellte, so dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Diedrich, erinnert er sich, war von einer unerträglich guten Laune wie besessen gewesen, er selbst von fürchterlichen Kopfschmerzen. Und die Frauen trugen ein indifferentes, schwer zu interpretierendes Lächeln im Gesicht, von dem niemand hatte ahnen können, worauf es sich bezog.

Man hatte Kaffee getrunken, in einer Bar im Freien. Graue Ascheflöckchen wurden vom Wind über die spiegelnde Fläche des Alutisches getragen. Alles war ihm laut, grell und aufdringlich erschienen. Er hatte sich Jalousien gewünscht vor seinem Gesicht, Eisenrollläden. Er versuchte es mit einem doppelten Espresso und einem kleinen Cognac.

Maren sprach über das Tagesprogramm. Er nickte, bestellte weiteren Kaffee, aber keinen Cognac. Während Maren über die bedeutende Stellung Genuas als Hafenstadt, Geldstadt, Handelsstadt in Mittelalter und Renaissance referierte, versuchte er, sich zu erinnern, ob er sie am Abend vorher geküsst hatte. Sie sagte:»Kolumbus und die Bedeutung der Seefahrt. «Er forschte in ihrem Gesicht, aber weder dieses noch ihre Gesten, das spärlich eingesetzte Schwenken der Hände, Zurückstreichen des Lockenhaares, noch ihre Blicke, auf die Tasse, das Wasserglas, in seine Augen, aber immer inhaltlich — denn es sei schließlich allerhand, sagte sie, dass die Genueser geglaubt hätten, eine windige dunkelgrüne Glasschüssel, die sie heute im Dommuseum aufbewahrten, sei tatsächlich der Heilige Gral — hatten etwas verraten. Nur einmal, wie ihm schien, zeigte sich auf ihrer Wange der kurze Hauch eines Errötens, als er eine Papierserviette von ihrem Wollpullover zupfte, die eine Meereswindböe dorthin getragen hatte.

Vom lärmenden Oval des Platzes aus waren sie in den engen Schatten der Altstadt gebogen. Die Mauern ragten steil und schweigend empor, darüber spannte sich blauer Himmel. Die dunkle Ruhe, wenn nicht eine Vespa vorüberschoss, war so groß, dass ihre Schritte hallten. Er sah Marens Kontur von hinten, den Schattenriss ihres Haars. Schön war es, geführt zu werden, aber auch anstrengend, aber egal. Hinter der Sonnenbrille kniff er die Augen zusammen, da er noch immer das Gefühl hatte, dass all die Eindrücke ungefiltert in ihn hineinströmten. Zwei aufflatternde Tauben. Ein Holzgerüst an einer Mauer, das diese vorm Einsturz bewahren sollte. Am Rund eines kleinen Platzes zwei Kirchen, dicht einander gegenüber, die eine mintgrün, die andere gelb, scharfkantig halb beleuchtet von einem Streifen Sonnenlichts. Ein Torbogen erhob sich vor ihnen, saugte sie ein und entließ sie ins noch dunklere Dunkel eines Gässchens. Wieder eine Kirche. Schmal drängte sie sich zwischen die Fassaden zweier Mietshäuser, verraten nur durch das bronzene Eingangsportal. Ein Obelisk, ein parkender Lieferwagen, die roten Lippen und dunklen Sonnengläser einer Frau. Alles fiel klappernd durch den Spalt seiner Augen in sein Inneres, wo es sich stapelte, ein Bild über dem anderen, in der Sparbüchse der Wahrnehmung, die nichts verlor.

Als sie längst voll war, zeigte sich ohne Vorwarnung die lichte Weite des Domplatzes. Die Kathedrale ragte mächtig empor, umflattert von den Schatten der Tauben im hohen Mittagslicht. Rechts und links vom Eingangsportal saßen zwei riesige Löwen mit steinlockiger Mähne, die aufgrund der Sanftheit ihres Augenaufschlags eher an Golden Retriever erinnerten. Marmorne Stufen, darauf gurrende, pickende Tauben und Touristen mit Stadtplänen. Tom legte die Hand auf die Mähne eines der Löwen, fühlte den kalten glatten ewigen Marmor und dachte an Marc. Warum jetzt an Marc? fragte er sich. Weil er oft an ihn denken musste, wenn er etwas Schönes sah, und es Zeiten gegeben hatte, da er sich vorgenommen hatte, nie wieder etwas Schönes zu sehen, zu denken.