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Der Tod ist leichter zu ertragen, wenn man das Leben zum Kotzen findet.

Aber es ist auch der Schmerz vergänglich, wie alles andere.

An der Pranke des Löwen klebte ein Kaugummi.

Als sie tief unten ins Dommuseum hinabgestiegen waren, in den kühlen dämmrigen Keller, wo der Gral hinter Panzerglas auf rotem Samt stand und nichts war als eine liederliche Kristallschüssel, Salatschüssel, musste Tom an den Wagner-Parzifal denken und gleichzeitig, darüber oder darunter, als wären seine Gedanken die Melodieführungen eines vielstimmigen Orchestersatzes, wieder an Marc, dessen Fehlen nur noch leise schmerzte, aber früher wie ein Loch mitten im Herzen. Und schmerzlich vermisste er diesen Schmerz und verfluchte die barmherzige, pragmatische Ärztin Zeit.

Aus dem Domkeller stiegen sie empor in die geräumige Dämmerung der Kathedrale. Er nahm Marens Hand, er wusste nicht, weshalb, und sie ließ sie ihm, einige Minuten lang, während sie in der dunklen Kühle stand und etwas erklärte, das sich um die Glasfenster drehte. Dann zog sie sie weg, lief weg, auf den Ausgang zu, öffnete die schwere gusseiserne Tür, stand für einen Moment im Licht und verschwand.

Nachdem man in der Nähe des Hafens frittierten Fisch gegessen und ein Glas Wein getrunken hatte, ging es, wie zu befürchten gewesen war, in die Museen: Zwei gigantische Renaissance-Palazzi, einer rot, einer weiß, beide vollgestopft bis in die letzten Stockwerke mit Kunst. Tom war bereits blind, als er den ersten Saal betrat. Er versenkte seinen Blick in den Fußboden, in dunkles Fischgrätparkett, das allein hätte genügt.

Vor einem Gemälde der Renaissance, das eine Frau in einem Zimmer mit einem sich in weite hügelige Landschaft öffnenden Fenster zeigte, blieben sie stehen, weil, so sagte Maren, man hier genau den Übergang, die Epochenzäsur, sehe, die ja auch ihr Thema sei. Tom hörte und nickte, während sie über die Entdeckung der Zentralperspektive sprach, die sogar ihm, dem Jazzmusiker, geläufig war. Sie aber redete mit vielen Fremdwörtern darüber, erklärte mit heller Stimme, dass fortan die Größenverhältnisse nicht länger in ihrer ontologischen Wertigkeit auf Gott hin geordnet seien, im symbolischen Verhältnis, also riesig der Gott, groß der Engel und etwas kleiner der König, winzig aber der Mensch, sondern dass, so sprach sie, nun ebendieser winzige Mensch, und zwar der Künstler, die Weltordnung neu bestimme, neu entwerfe und in das Chaosdickicht der Welt mit seiner Kunst und seiner zentralperspektivischen Ordnung eine Schneise der Bedeutung hineingeschlagen habe, mit einem Mal.

Sie räusperte sich kurz, vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, ob sie alle auch alles kapiert hätten, dann fuhr sie fort, dass dies ein Merkmal von Moderne sei, nämlich, dass sich der Mensch sein Ordnungssystem selbst konstruiere und dafür keine transzendente Versicherung, sagte sie, mehr benötige. Aaaah, sagte Diedrich von unten nach oben ansteigend und nickte bedeutend.

Transzendente Versicherung, dachte aber Tom, umständlicher geht es wirklich nicht.»Du meinst, keinen Gott«, sagte er.

«So in etwa, ja.«

«Und wie kam es, dass sie plötzlich keinen Gott mehr gebrauchen konnten?«, fragte er, was ihn nämlich nun doch interessierte.

Maren überlegte einen kurzen Moment. Aber dann wusste sie schon weiter. Sie erklärte das scholastische System, sie erklärte den absoluten Gott, der im Nominalismus an kein Gesetz gebunden gewesen sei und daher schalten und walten konnte wie ein osteuropäischer Diktator. Sie erklärte, wie aus diesem absoluten Gott ein verborgener Gott geworden sei, so Maren. Und Tom, der ihr gegenüberstand, staunend, ohne zu wissen, worüber er eigentlich im Einzelnen staunte, konnte nur schwer folgen. Aus dem Augenwinkel sah er den dunklen Hintergrund des Gemäldes, dann den Hintergrund des hohen Museumsraums, und die aus ihm hervortretenden Passanten erschienen ihm plötzlich zweidimensional, flach, wie Scherenschnitte.

Maren sagte:»Der Mensch konnte Gott immer weniger begreifen, denn er war ja an kein logisches Gesetz gebunden. «Tom betrachtete ihren Hals, der ihm zweidimensional erschien. Ihre Stimme, von der er nur Bruchstücke auffing, glitt ebenfalls gleichsam zweidimensional durch den Raum, wie ein Spruchband. Er nahm die Sonnenbrille ab.

Maren sagte:»Kontingenz. «Und:»Gott wurde letztlich zu einem Synonym des blinden Zufalls. «Und:»Ein verborgener Gott ist ebensogut wie ein toter Gott.«

Eine Reisegruppe strebte beigewolkig durch den hohen Saal und verschwand hinter der angrenzenden Flügeltür. Durch die Bewegung erhielt der Raum seine Dreidimensionalität zurück.

Angesichts der» metaphysischen Obdachlosigkeit«, so Maren, die nun wieder körperlich vor ihm dastand, habe der Mensch freie Hand gehabt, ja sei er gezwungen gewesen, sich selbst ein Haus zu bauen, Zentralperspektive, Fortschritt, Wissenschaft, Kunst etc.

«Moment mal«, sagte aber Tom, dem das alles auf einmal zu einfach erschien, auch weil nun wieder alles räumlich vor ihm sich in die Tiefe auffächerte, unüberschaubar, teils hinter Ecken und in Nischen verborgen, und weil er sich außerdem schon vor langer Zeit dafür entschieden hatte, zu wissen, dass nichts einfach war im Leben. Also sagte er:»Ein verborgener Gott ist doch kein toter Gott. Wenn ich mich verstecke, bin ich doch noch lange nicht tot.«

«Nein, aber bald.«

«Gott ist also in seinem Versteck verhungert.«

«Sozusagen.«

«Sie haben vergessen, ihn zu füttern.«

Maren lachte, als wäre das lustig, wenn jemand verhungert, und fuhr fort, denn sie war unterbrochen worden, indem sie erklärte, dass es nämlich in ihrer Doktorarbeit um gewisse Ähnlichkeiten, Parallelen gehe, die sie aufzuzeigen beabsichtige, um den menschlichen Blick beispielsweise, zunächst als eine Fortentwicklung und später als Auflösung der Zentralperspektive, den subjektiven, sich selbst reflektierenden Blick auf die Welt; man denke an die Bilder der Romantik, man denke an, sagte sie und schob ihre Ärmel ein wenig hoch an den weißen Armen, Caspar David Friedrichs Arbeiten, wo keineswegs die Landschaft im Mittelpunkt stehe, sondern eben der Blick des Betrachters, wo die Welt aus den Augen des Individuums erst entworfen werde.

«Ist die Welt also ein Kaffeeservice, wo auf allen Teilen das gleiche Muster drauf ist?«, fragte Tom und unterbrach sie schon wieder.

«Wieso?«, fragte Maren. Aber Tom wusste selbst nicht, wieso, wusste aber, dass ihm das schon gefallen würde, die Welt als riesiges Kaffeeservice, dachte er. Man nimmt sich einen Unterteller, studiert ihn aufmerksam und hat auch schon das Ganze begriffen.

«Die Fluchtlinie in den Horizont«, sagte Maren jetzt, und Tom verfolgte die blauen Linien auf ihren Händen, dieses großmaschige Adernetz, durch das ihr Blut floss.»Der Blick des Betrachters«, sagte sie, und Tom dachte, dass es doch alles egal war. Dass es gespenstisch aussehen musste, stellte er sich vor, wenn sie nackt wäre. Aber auch reizvoll. Aber gespenstisch. Ihr Mund, bemerkte er, war hellorange, eine winzige Mandarine, es musste am Licht liegen, und ihre Schneidezähne zeigten kleine dunklere Verfärbungen, es sah aus, als hätte sie selbst auf den Zähnen Sommersprossen.

«Wir sollten lieber küssen«, flüsterte Tom, nah an ihrem Ohr, aber unauffällig. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so kühn gewesen zu sein. Maren sah auf das Bild, auf den Übergang von Mittelalter zu Renaissance, als hätte sie nicht gehört, aber ihr linker Mundwinkel dehnte sich zu einem Lächeln, wodurch direkt daneben eine dreieckige Vertiefung, ein Grübchen entstand. Dann drehte sie den Kopf, ließ ihren Blick tief in seine Augen hinab. Ohne ein Wort ging sie weiter, in den nächsten Saal, denn bis ins Dach hinauf gab es Säle, und dieser war erst der erste.

Als er Stunden später auf den Hof in den Schatten der Orangenbäume trat, fühlte er sich schwach, er schwitzte, ließ sich auf ein Steinbänkchen sinken, schnappte nach Luft und öffnete mit zitternden Händen die obersten Knöpfe seines Hemdes. Er suchte nach Zigaretten. Immerhin hatte er diese Besichtigung überstanden, wie er schon alles Mögliche überstanden hatte in seinem Leben. Er rauchte und blickte ins schattige Grün der Orangenbäume. Tatsächlich leuchteten dort Orangen, was ihn erstaunte. Im Zentrum des quadratischen Innenhofs plätscherte ein bemooster Marmorbrunnen, und ein Grüppchen von Museumsmitarbeitern stand und rauchte und unterhielt sich auf Italienisch. Sie müssen einen sehr langweiligen Beruf haben, dachte Tom, langweilig, aber schön. Die erstaunlich frisch aussehende Maren setzte sich neben ihn, ihre Stirn zwischen den Augenbrauen war gekräuselt und ihr Blick auf seinen offenen Hemdkragen sorgenvoll,»alles in Ordnung?«, fragte sie und hatte offenbar ein schlechtes Gewissen wegen ihrer unmenschlichen Ausdauer, wegen ihrer Allwissenheit. Wahrscheinlich würde er aufgrund ihres schlechten Gewissens alles Mögliche von ihr haben können, dachte er, wenn er nur will, aber er weiß nicht, ob er will. Einerseits muss es nicht sein, dachte er sich, andererseits schadet es auch nicht, zumal nach Monaten absoluter Enthaltsamkeit, in denen eine Studentin der Bassklarinette und deren Ikeabett (worin sich nichts ereignet hatte außer Schlafen) die absoluten Highlights gewesen waren.