Als sie später durch die dämmrige Stadt gingen, er neben seinem Saxofon spielenden Kollegen, vorn die beiden Frauen, stellte sich beiläufig heraus, dass ihr Zusammentreffen in der Theaterkantine sich keineswegs zufällig ereignet hatte, sondern eine von langer Hand Diedrichs geplante und eingefädelte Sache war, woraufhin die Sache, was immer damit im Einzelnen zusammenhing, in Hollers Augen nicht unbedingt attraktiver erschien.
Beim Abendessen in einer kleinen Trattoria dachte er nicht weiter darüber nach. Sie tranken einigen Wein, es wurde gelacht, seine Kopfschmerzen verschwanden. Ab und zu, wenn er ihr den Parmesan reichte oder Wein nachschenkte, berührte er mit seiner Hand ihren Arm, wie aus Zufall, und vielleicht war es auch Zufall. Noch später berührte sein Knie unter dem Tisch ihr Knie, und wieder später, als sie vor der Tür standen und rauchten, da streckte er seine Hand plötzlich aus und berührte mit den Fingern eine Stelle knapp über ihrer linken Braue. Erstaunt sah sie zu ihm auf, dann zu Boden, rauchend, und warf schließlich die Zigarette fort, obwohl sie sie sonst bis zum Filter aufrauchte. Es kam in etwa zu folgendem Dialog:
«Wir sollten das lassen.«
«Was lassen?«Oft ist es das Einfachste, dachte Holler, zunächst den Ahnungslosen zu spielen. Das Einfachste muss außerdem nicht immer das Schlechteste sein.
«Ich hab das Gefühl, dass du gar nicht da bist.«
Schweigen, Anzünden einer Zigarette. Er gab ihr Feuer. Der Rauch ihrer beider Zigaretten traf sich zwischen ihnen auf halber Strecke. Er musste an das Glück denken, das er in der Nacht zuvor empfunden hatte, das er sich eingebildet hatte in seinem Kopf. Er fragte Maren:»Ist die Wirklichkeit wichtiger als der Kopf?«
«Nein«, sagte sie.»Der Kopf ist ja die Wirklichkeit.«
«Ich kann dir beweisen, dass ich da bin«, sagte er.
Jetzt lachte sie. Sie nickte, schüttelte gleichzeitig den Kopf, so als verböte sie es sich. Während er sie von der Seite beobachtete, ihr helles Gesicht, das Haar, das an das Rot von Opernvorhängen erinnerte, stellte er sich vor, wie er den Haar-Vorhang beiseitenähme und ihr etwas ins Ohr flüsterte, am besten etwas Philosophisches, etwas in der Art von: Weißt du, warum Gott die Welt erschaffen hat? stellte er sich vor, ihr zu sagen, und: Nein? Du weißt es nicht? Dann aber will ich es dir sagen. Nämlich Gott hat sich eines Morgens vom Himmel hinabgebeugt und hat in den Abgrund geblickt, wo ein düsteres Chaos war, und weil ihn gegraust hat und er es nicht ertragen konnte, hat er die Welt erschaffen, um das Chaos zuzudecken und um nicht allein zu sein. Damit aber hat er sein eigenes Todesurteil unterzeichnet, was ihm recht geschieht, denn er war ein Feigling, er hätte den Abgrund stehen lassen sollen, er hätte das Nichts ertragen müssen, genau wie wir es ertragen müssen. Aber er sagte nichts dergleichen.
Arm in Arm gingen sie durch die schwarze Stadt, manchmal blieben sie stehen, in engen Häuserportalen, einmal auf einer Piazza. Maren lehnte am Rand eines Brunnens, Wasser stäubte, seine Hände lagen auf ihren Schultern, seine Daumen erkundeten die Linie ihres Halses, sie küssten sich, er wollte nicht allein sein. Er wollte da sein.
In seinem Hotelzimmer — er ganz der Gastgeber — wurde die Minibar geplündert, die seit dem Vorabend glücklicherweise schon wieder aufgefüllt worden war. Sie tranken Sekt. Maren saß auf seinem Schoß, auf dem hellhölzernen Stuhl am Tisch. Wieder küssten sie, ihr Mund war wie ihre Stimme, hell, weich, leise, trotzdem bestimmt, ernst auch, und in einer halben Umarmung kippten sie aufs Bett, das glücklicherweise ein Doppelbett war. Durch den Wollpullover berührte er ihre Brüste, seine Lippen lagen an ihrem Hals, dann schoben sich beide Hände unter den Pullover. Das alles war so lange her, dass es ihm komplett neu vorkam, dabei unwirklich in höchstem Maß, und er musste einen Schluck Wasser trinken. Er saß auf der Bettkante, Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, Hände am Kinn, als er auf dem Nachttisch, neben dem Schokoladenschüsselchen, sein Handy entdeckte, das noch immer nicht aufgeladen war. Maren räusperte sich, er spürte ihre leichte Hand auf seiner Schulter.
«Hast du zufällig ein Siemens-Netzteil?«, fragte er, ohne sie anzublicken.»Ich muss jemanden anrufen. «Er fühlte, wie sie den Kopf schüttelte, ihr Haar an seinem Nacken, und sie streichelte seinen Oberarm.
«Komm«, sagte sie. Dann legte er sich neben sie, und sie schauten fern. Schulter an Schulter lagen sie, ein paar Kissen im Rücken, und sahen ein erbärmliches Fernsehprogramm, aßen dabei Erdnüsse aus der Minibar und zwei kleine Tüten Chips und rauchten italienische Zigaretten aus Softpacks. Durch die halb geschlossene Jalousie drang Vespagehuste, das in Streifen geschnittene Licht der Leuchtreklamen. Fernsehen ist einfach super, dachte Tom. Irgendwann — vielleicht würde er ihr einmal alles erzählen — schienen sie eingenickt zu sein, Hand in Hand. Er glaubte, lange nicht so gut geschlafen zu haben.
AQUAPLANING
Alfredo Sandri, dachte Betty Morgenthal manchmal, ohne es ihm jemals zu sagen, hatte sie einst vor dem Ertrinken gerettet.
Er hatte sie aus dem Wasser gefischt. Er hatte sie ausgeschleudert und ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Er hatte sie in seinen warmen trockenen Schrank gelegt. Da lag sie seither. Warm und trocken.
An jenem Tag hatte die Helligkeit der Blitze nur das Dunkel offenbart. Über den Köpfen hatten Hunderte von Schirmen gestanden, die vom jähen Licht alle zwei Sekunden aus der Düsternis gerissenen wurden. Kalter, vom Meer herauffliegender Wind. Hektisches elektrisches Leuchten des Straßenverkehrs. Und darin stand sie, die Deutsche, ohne Schirm, an der Piazza Trieste e Trento vor der berühmten Bar Gambrinus von einem Bein aufs andere tretend, das rote Opernhaus San Carlo im Blick, und wartete auf einen Bus, der nicht kam. Und fragte sich wieder, wie bereits in Bologna, wie die Italiener beim ersten Regentropfen ihre Schirme aus dem Nichts holten, woher sie sie plötzlich nahmen, als ahnten sie den Regen, jene Seltenheit, die in diesem Land die Feindlichkeit einer unberechenbaren Natur zu verkörpern und in ihrer für den Menschen tiefschädlichen Bedeutung nur von Erdbeben und Vulkanausbrüchen übertroffen zu werden schien, weshalb nass zu werden ungefähr die drittschlimmste Naturkatastrophe war, die einem zustoßen konnte und die es unter allen Umständen zu vermeiden galt, diese akute Gefährdung der Zivilisation, d. h. der Frisur, daher die aus dem Nichts gezauberten Schirme beim ersten Tropfen, was sie bewunderte, denn sie hatte keinen. Wie immer.