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»Nein.«

Es war Aton, der antwortete, nicht sein Vater, aber dieser sah ihn nur unsicher und zutiefst erschrocken an, und Aton fügte nach einer Sekunde hinzu: »Nein, das will er ganz bestimmt nicht. Und ich auch nicht.«

Er trat dicht an die beiden nebeneinanderliegenden Sarkophage heran und sah auf sie hinab. Sein Blick glitt über Echnatons Hände, die Krummstab und Fliegenwedel des Pharaos hielten, und dann über die seiner Gemahlin Nofretete, die leer waren. Sie waren es nicht immer gewesen. Er erinnerte sich - jetzt, endlich, erinnerte er sich an alles - daß bei seinem ersten Besuch in der Grabkammer ein goldenes Amulett in ihnen gelegen hatte.

Suchend sah er sich auf dem Boden um und entdeckte es schon nach Augenblicken. Es war zwischen die beiden Sarkophage gerutscht und halb von Schlamm und eingetrocknetem Staub bedeckt. Aber als er es aufhob und sauberwischte, schimmerte es so unversehrt und kostbar wie am ersten Tag.

»Das ist ... das Udjatauge!« sagte sein Vater ungläubig.

Aton nickte nur. Mit fast bedächtigen Bewegungen entfernte er den letzten Rest von Schmutz und Unrat von dem Amulett, und schließlich sahen sie alle, daß es nicht komplett war. Das Auge, eingefaßt in ein feines Filigran aus Gold und blauer Emaille, war so groß wie seine Hand, aber etwas fehlte: Die Pupille war nicht da. An ihrer Stelle gähnte nur ein kreisrundes Loch, so groß wie Atons Daumennagel.

»Du mußt es zurücklegen«, sagte Petach. »Nur du bist in der Lage dazu. Weder ich noch einer der anderen Götter können es berühren. Gib es Nofretete zurück, und es ist ihrem Zugriff für immer entzogen.«

Atons Hand strich ein letztes Mal über das Amulett, und er glaubte die pulsierende magische Kraft zu spüren, die in dem kleinen Schmuckstück aus Gold und Emaille gebannt war.

Dann wanderten seine Finger fast ohne sein Zutun zu seiner Schulter hinauf und glitten über den winzigen, harten Knoten unter seiner Haut, und diesmal spürte er ganz deutlich, wie etwas in ihm auf den magischen Ruf antwortete. Er fühlte einen leichten Schmerz.

Hinter ihm bückte sich Petach zu einer der Wächterstatuen und zog den Dolch aus dem Gürtel des hölzernen Kriegers. Die Waffe war dreitausend Jahre alt, aber sie schimmerte wie neu, und ihre Klinge war scharf wie ein Skalpell.

»Es wird weh tun«, sagte Petach.

»Ich weiß«, antwortete Aton. Er begann zu zittern. Er sollte tapfer sein - der Schmerz würde nicht annähernd so schlimm sein wie das, was ihn erwartete, wenn Petach es nicht tat. Aber dieses Wissen änderte nichts daran, daß er plötzlich schreckliche Angst hatte.

»He!« protestierte Atons Vater. »Was ... was haben Sie vor?!« Er hob die Arme, um Petach zurückzureißen, aber diesmal war es zur allgemeinen Überraschung niemand anderer als Sascha, die ihn zurückhielt, indem sie ihm sanft die Hand auf die Schulter legte.

»Lassen Sie ihn«, sagte sie. »Es muß sein.«

Atons Vater schlug ihre Hand beiseite und funkelte sie kampflustig an. »Was muß sein?« fragte er scharf. »Was hat er mit dem Messer vor?«

»Das Auge«, sagte Aton. Er wies mit einer Kopfbewegung zuerst auf das Amulett in seinen Händen, dann auf seine eigene Schulter. »Das fehlende Stück. Es ist in mir.«

»In dir? Was soll das heißen? Das ist doch -« Plötzlich stockte sein Vater. Seine Augen weiteten sich abermals, und seine Stimme sank zu einem kaum noch hörbaren Flüstern herab. »Der Unfall. Es ... es muß damals passiert sein, als ... als du verschüttet worden bist. Du bist damals schon hiergewesen.« Er atmetete hörbar ein. »Großer Gott, jetzt verstehe ich endlich. Deshalb konntest du es überleben.«

Petach blinzelte. »Wie meinen Sie das?«

Atons Vater beachtete ihn gar nicht, sondern blickte unverwandt weiter seinen Sohn an. Aton sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, das auszusprechen, was er nun sagte. »Da ist etwas, was ... was wir dir nie erzählt haben, Aton. Ich ... dachte, es wäre nicht nötig, und deine Mutter und ich, wir haben es auch nie verstanden. Sowenig wie alle anderen.«

»Was?« fragte Aton beunruhigt.

»Der Unfall, damals«, antwortete sein Vater, während er seinem Blick auswich. »Wir haben dir immer erzählt, daß du schwer verletzt gewesen bist, als wir dich ins Krankenhaus brachten. Aber das ... das stimmt nicht.«

»Was war ich dann?« fragte Aton. Ein sehr ungutes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Er wußte, was sein Vater antworten würde.

»Du warst unter Tonnen von Felsen begraben, Aton«, sagte sein Vater. Er hatte noch immer nicht die Kraft, ihn direkt anzublicken, sondern fixierte einen imaginären Punkt irgendwo hinter ihm. »Dein Rückgrat war gebrochen. Du hattest einen vier- oder fünffachen Schädelbruch und zahlreiche innere Verletzungen. Du warst tot.«

»Was sagen Sie da?« keuchte Petach, auch Yassir sah erschrocken auf. Nur Sascha reagierte überhaupt nicht, so als wäre das, was sie da hörte, keineswegs neu für sie.

»Er verblutete in meinen Armen«, sagte Atons Vater leise. Er hatte sich zu Petach gewandt, als fiele es ihm leichter, ihm von jenen schrecklichen Ereignissen damals zu berichten als seinem Sohn. »Der Arzt, der kam, konnte nur noch seinen Tod feststellen. Meine Frau und ich waren vollkommen verzweifelt, und da ich schon damals ein Mann von gewissem Einfluß war, rief man einen Helikopter, der Aton ins Krankenhaus nach Kairo brachte. Dort bestätigte man seinen Tod. Meine Frau brach vollkommen zusammen, und auch ich ...« Er atmete hörbar ein. Die Erinnerung drohte ihn zu überwältigen, und er brauchte eine Weile, bis er genug Kraft geschöpft hatte, um fortzufahren.

»Ich erinnere mich kaum an die darauffolgenden Stunden. Wir verbrachten die Nacht im Krankenhaus. Am nächsten Morgen ließ man uns noch einmal zu ihm, um Abschied zu nehmen. Und als wir das Zimmer betraten - schlug er die Augen auf.«

»Sind Sie ganz sicher, daß die Arzte keine Fehldiagnose gestellt haben?« fragte Petach. Das Gehörte schien ihn über die Maßen zu beunruhigen, was Aton sich nicht erklären konnte.

Atons Vater lachte bitter. »Sicher? Ich habe die Röntgenaufnahmen gesehen, Petach! Er war nicht scheintot, wenn Sie das meinen. Es war auch nicht jene Art von klinischem Tod, aus dem die Menschen manchmal nach zehn Minuten oder einer Stunde wieder aufwachen und von irgendwelchen Lichtern und Tunnels erzählen. Er war eindeutig tot, und zwar für beinahe vierundzwanzig Stunden. Und dann schlug er die Augen auf und war so gut wie unverletzt! Das ganze Krankenhaus hat kopfgestanden. Ich mußte all meinen Einfluß geltend machen, um Aton überhaupt mitnehmen zu können. Am liebsten hätten sie ihn gleich in Stücke geschnitten, um nachzusehen, wie er dieses Kunststück fertiggebracht hat. Aber jetzt verstehe ich es endlich.« Er deutete auf das Amulett in Atons Händen.

»Das ist das Udjatauge. Ich meine: das echte Auge des Horus, nicht irgendeine Nachbildung. Das Amulett des ewigen Lebens. Deshalb ist er von den Toten wiederauferstanden.«

»Ja«, sagte Petach düster. »So ist das also.« Er tauschte einen Blick mit Yassir, und Aton sah, daß plötzlich auch auf dem Gesicht des Ägypters derselbe sonderbar erstaunt-betroffene Ausdruck erschienen war wie auf dem Petachs. Etwas an dem, was sein Vater erzählt hatte, schien für die beiden Männer von ungemeiner Wichtigkeit zu sein.

»So ist was?« fragte er betont.

Petach seufzte tief. »Wir haben uns gefragt, warum Osiris ausgerechnet jetzt solch gewaltige Anstrengungen unternimmt, um deiner habhaft zu werden. Es ist nicht ungefährlich für ihn, sich offen gegen mich zu stellen. Aber nun begreife ich es. Du bist der, auf den er mehr als dreitausend Jahre gewartet hat.«

»Ich weiß«, antwortete Aton.

Petach schüttelte mit einem verzeihenden Lächeln den Kopf. »Du verstehst nicht.« Er deutete auf das Amulett. »Es geht nicht nur darum. Selbst mit dem Udjatauge fiele es ihm schwer, Echnatons Krieger gegen meinen Willen zu erwecken. Er mag der Herr der Toten und der Nacht sein, aber der Tag und die Lebenden gehören mir. In deinen Händen jedoch wird das Auge des Horus zu einem Instrument unüberwindlicher Macht.«