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»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, konterte Aton. »Warum tun Sie das? Mein Vater wird ziemlich ärgerlich sein, fürchte ich.«

»Das ist möglich«, antwortete Petach knapp. »Aber nicht sehr lange, glaub mir.«

»Ich habe vor einer Woche mit meinen Eltern telefoniert«, fuhr Aton fort. »Vater ist wieder einmal voll im Streß und weiß nicht, wo ihm der Kopf steht. Wahrscheinlich störe ich zu Hause nur.«

Petach runzelte die Stirn. »Ich glaube«, sagte er, »du tust deinen Eltern unrecht, Aton. Sie werden sich trotzdem freuen, dich zu sehen, auch wenn sie nicht viel Zeit für dich aufbringen können.«

Petach wandte den Blick von der Straße und sah ihn an.

»Ich weiß, wie du dich fühlst«, sagte er leise.

»So?« antwortete Aton einsilbig.

Petach nickte, und obwohl sich in seinem Gesicht nicht die mindeste Regung zeigte, hatte Aton plötzlich das Gefühl, ein Lächeln zu erblicken; ein warmes, väterliches Lächeln. »Ja«, sagte Petach. »Auch ich war einsam, als ich in deinem Alter war. Ich hatte keine Eltern. Und das ist nicht gut. Kinder gehören zu ihren Eltern.«

»Bringen Sie mich deshalb zurück?« fragte Aton.

»Auch«, sagte Petach.

»Und warum noch?« fragte Aton.

Wieder zögerte Petach mit einer direkten Antwort und konzentrierte sich ganz darauf, den Wagen die schmalen Kehren und Windungen der Straße entlangzusteuern, die sich durch den Wald dem Berg entgegenwand. »Weil es besser ist«, sagte er schließlich. »Du ... kannst nicht länger hierbleiben. Du bist hier nicht mehr sicher.«

»Nicht mehr sicher?« Aton richtete sich verstört in seinem Sitz auf und blickte wieder nach hinten. Aus der Entfernung wirkte das Internat noch düsterer und bedrohlicher. Und - war es nur seine Einbildung, oder sah er es wirklich? Für einen Moment glaubte er, etwas Körperloses, Finsteres zu erkennen, wie Schatten, die aus dem Nichts erschienen und sich zusammenballten, um einen drohenden Ring um das Klostergebäude zu bilden, ein Ring, der sich langsam, aber unerbittlich enger zusammenzog. Eine Armee der Nacht, die zum Sturm auf eine Festung ansetzte.

Die Straße beschrieb eine enge Kehre, und dann verbarg der Wald das Internat und eine Sekunde später ganz Crailsfelden vor ihren Blicken. Aton atmete unwillkürlich auf und drehte sich wieder nach vorn.

»Was soll das heißen?« fragte er.

Petach blickte starr geradeaus und fuhr sich mit der Zungenspitze nervös über die Lippen, wie jemand, der eigentlich schon zuviel gesagt hatte und seine Worte bedauerte, sie aber nicht mehr zurücknehmen konnte. »Manchmal entwickeln sich die Dinge anders, als man möchte«, sagte er schließlich. »Und es gibt Dinge, die lassen sich schwer erklären.«

Das war nicht die Antwort, die Aton hatte hören wollen - ganz und gar nicht. Statt ihn zu beruhigen, bewirkten Petachs Worte das genaue Gegenteil. Aber er machte keine Anstalten, irgendeine weitere Erklärung abzugeben, sondern lächelte nur und begann plötzlich von seiner Heimat zu erzählen.

Und dabei blieb es, fast für den Rest des Tages.

Der Schattenwald

Es gab noch etwas, was Aton im Zusammenhang mit Petach gewußt und wieder vergessen hatte: Der Ägypter haßte es, schnell zu fahren. Der Mercedes hätte auf der Autobahn gut und gerne seine zweihundertfünfzig geschafft, aber Petach fuhr nicht auf die Autobahn, sondern blieb den ganzen Tag über auf Nebenstraßen, und die Tachometernadel kletterte nie über die Siebzig. Die Nacht würde hereinbrechen, lange ehe sie zu Hause waren. Aton beherrschte sich tapfer, keine entsprechende Bemerkung zu machen, aber schließlich war seine Geduld erschöpft.

»Warum fahren Sie so langsam?« fragte er.

Petach löste für einen Moment der Blick von der Straße, sah ihn an und lächelte flüchtig. »Das tun wir nicht.«

»Wir fahren nicht einmal siebzig!« protestierte Aton.

»Das ist schnell genug«, erwiderte Petach gelassen. »Wenn man es genau nimmt, schon viel zu schnell. Hast du eigentlich eine Ahnung, was für eine ungeheure Geschwindigkeit das ist?«

Aton verzichtete auf die schnippische Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Etwas an Petachs Art zu sprechen machte ihm klar, daß es vollkommen sinnlos war, darüber mit ihm zu diskutieren. Trotzdem sagte er nach einer Weile: »Wären wir auf der Autobahn gefahren, wären wir längst da.«

Petach schüttelte abermals den Kopf. »Warum habt ihr es immer so furchtbar eilig? Es spielt überhaupt keine Rolle, ob man eine Stunde früher oder später ankommt.«

Aton gab auf. Wenn er es übertrieb, dachte er, brachte es Petach glatt fertig und hielt an, um ihm einen Vortrag über die Gefahren des Straßenverkehrs zu halten. Er drehte sich halb im Sitz herum und blickte in die Dämmerung hinaus.

Vielleicht hätte er das besser nicht getan. Der Anblick der am Wagen vorüberhuschenden Schemen löste eine ganze Reihe unguter Erinnerungen in Aton aus - Erinnerungen an gestern, an seinen Traum und den Schatten, den er im Internat zu sehen geglaubt hatte. Und ...

»Sie haben mit Zombeck über den Vorfall im Museum gesprochen, nicht wahr?« fragte er plötzlich.

Jetzt schien ihm alles ganz klar. Die Bilder hatten nicht zufällig auf Zombecks Schreibtisch gelegen, als er das Büro betrat. »Ich habe es Ihnen zu verdanken, daß er meinem Vater nichts davon erzählt.«

Petach lächelte. »Sagen wir: Ich habe ihn davon überzeugt, daß dich keine Schuld an dem trifft, was geschehen ist«, erwiderte er ausweichend. »Es war nicht besonders schwer.«

»Zombeck überzeugt?« fragte Aton ungläubig. Niemand überzeugte Direktor Zombeck von irgend etwas, wovon er sich nicht überzeugen lassen wollte, das war ein ehernes Gesetz. »Wie um alles in der Welt haben Sie das geschafft? Haben Sie ihm mit dem Fluch der Pharaonen gedroht?«

Petach lachte, aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten. Ein harter Ruck ging durch den Wagen. Aton klammerte sich an seinem Sitz fest, während Petach fluchend mit dem Lenkrad kämpfte, das plötzlich in seiner Hand bockte und sich wild hin- und herzudrehen versuchte. Der Mercedes schlingerte, kam mit zwei Reifen von der asphaltierten Straße ab und drohte ganz auszubrechen. Im letzten Moment bekam Petach die Kontrolle über den schweren Wagen zurück, trat behutsam auf die Bremse und lenkte ihn an den Straßenrand.

Das spürbare Ruckeln des rechten Vorderrades und das hörbare Flap-flap erklärten Aton, daß sie einen Plattfuß hatten.

Petach zog mit einem unnötig harten Ruck die Handbremse an, als der Wagen am rechten Straßenrand zum Stehen gekommen war, und Aton entging auch nicht der nervöse Blick, den er in den Rückspiegel warf. Er wirkte sehr besorgt.

»Da siehst du, was ich meine«, sagte er. »Wären wir schneller gefahren, dann hätte ich den Wagen vielleicht nicht mehr abfangen können!«

Aton sagte nichts dazu. Das war nicht der wirkliche Grund für Petachs Sorge, das spürte er ganz deutlich.

Hastig löste er seinen Sicherheitsgurt und wollte die Hand nach dem Türgriff ausstrecken, aber Petach winkte ab.

»Bleib sitzen!« befahl er.

Seine Stimme war so scharf, daß Aton mitten in der Bewegung erstarrte und den Ägypter erstaunt anblickte. »Wir haben eine Reifenpanne«, sagte er. »Ich kann Ihnen helfen, das Rad zu wechseln.«

Petach schüttelte heftig den Kopf. »Das mache ich schon«, sagte er. »Du bleibst im Wagen!«

Der Ton, in dem er die Worte aussprach, machte sie eindeutig zu einem Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Aton ließ sich in seinem Sitz zurücksinken und sah dem Ägypter verwirrt zu, wie dieser die Fahrertür aufriß und aus dem Wagen stieg. Mit schnellen Schritten umkreiste Petach den Wagen und blickte mißmutig auf das rechte Vorderrad hinunter - aber erst, nachdem er einen raschen Blick in die Runde geworfen hatte. Irgend etwas stimmt nicht, dachte Aton. Petach benahm sich nicht wie ein Mann, der sich über einen platten Reifen ärgerte. Er benahm sich auch nicht wie jemand, dem plötzlich durch den Kopf geschossen war, was ihnen alles hätte passieren können, hätte er die Kontrolle über den Wagen verloren. Nein - er benahm sich ganz eindeutig wie jemand, der auf der Flucht war.