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In keiner seiner Gestalten wäre Krasus, und mochte er auch noch so stark und noch so anpassungsfähig sein, der entfesselten Kraft eines Aspekts gewachsen gewesen. Die Wucht der Geistesmacht des anderen Drachens schleuderte ihn gegen die Höhlenwand, wo der Magier zusammenbrach.

Es dauerte mehrere Minuten, bis Krasus sich wieder vom Boden erheben konnte, und selbst dann drehte sich ihm noch der Kopf. Gedankensplitter, die nicht seine eigenen waren, drangen auf ihn ein. Er musste seine ganze Kraft zusammennehmen, nur um bei Sinnen zu bleiben.

Langsam stabilisierten sich seine Empfindungen jedoch so weit, dass er das ganze Ausmaß dessen erkennen konnte, was gerade geschehen war. Nozdormu, Herr der Zeit, hatte verzweifelt um Hilfe gefleht … um seine Hilfe. Er hatte sich aus irgendeinem Grund an den geringeren Drachen gewandt und nicht an einen seiner gleichrangigen Gefährten.

Doch etwas, das selbst einen Aspekt entsetzte, konnte nur eine monumentale Bedrohung für den Rest von Azeroth darstellen. Warum also hatte er einen einzelnen roten Drachen gewählt und nicht Alexstrasza oder Ysera?

Er versuchte wieder, den großen Drachen mit seinen Gedanken zu erreichen, doch alle Bemühungen blieben erfolglos, erhöhten nur noch das Durcheinander in seinem Kopf. Krasus fand mühsam seine Balance zurück und fragte sich, was er tun konnte. Vor allem ein Bild verlangte unablässig seine Aufmerksamkeit, das Bild einer schneebedeckten Berggegend in Kalimdor. Was auch immer Nozdormu ihm hatte erklären wollen, es hing mit dieser trostlosen Region zusammen.

Krasus würde den Hilferuf untersuchen, aber dabei würde er fähige Hilfe benötigen, jemanden, der sich gut auf neue Situationen einstellen konnte. Obwohl Krasus auf seine eigene Anpassungsfähigkeit stolz war, neigte seine Spezies im Allgemeinen dazu, sehr starrsinnig zu sein und hartnäckig an ihren Gewohnheiten festzuhalten. Er brauchte jemanden, der zuhören, aber auch sofort reagieren konnte, wenn die Entwicklung der Ereignisse dies erforderte. Nein, für eine solch unberechenbare Mission eignete sich nur eine Kreatur. Ein Mensch.

Insbesondere ein Mensch namens Rhonin.

Ein Zauberer …

Und in den Steppen Kalimdors hockte ein gebeugter, alter Orc an einem rauchigen Feuer. Die moosgrüne Gestalt murmelte Worte, deren Ursprung auf einer anderen, lange verlorenen Welt lag, und warf ein paar Blätter in die Flammen, wodurch der bereits schwere Qualm noch dichter wurde und seine bescheidene Hütte aus Holz und Erde ausfüllte.

Der kahlköpfige, alte Orc schob sich etwas näher an die Glut und atmete tief ein. Seine müden, braunen Augen waren von Adern durchzogen, und seine Haut hing in schlaffen Falten herab. Seine Zähne waren gelb und gesplittert, einer der Stoßzähne war schon vor vielen Jahren abgebrochen. Er konnte sich kaum ohne fremde Hilfe erheben, und wenn er ging, so tat er dies mit krummem Rücken und sehr, sehr kleinen und vorsichtigen Schritten.

Doch selbst der stolzeste Krieger huldigte ihm, dem Schamanen, mit Respekt.

Ein bisschen Knochenstaub, ein paar Tannar-Beeren … alles Teil einer altbewährten Tradition, die unter den Orcs der Gegenwart ihre Wiederbelebung erfahren hatte. Kalthars Vater hatte seinen Sohn sogar während der dunklen Jahre der Horde alles gelehrt, genau wie es Kalthars Großvater zuvor den eigenen Sohn gelehrt hatte.

Und nun, zum ersten Mal in seinem Leben, hoffte der alte Schamane inständig, dass er ein guter Schüler gewesen war.

Stimmen murmelten in seinem Kopf, die Geister jener Welt, die die Orcs nun ihre Heimat nannten. Normalerweise flüsterten sie von den kleinen Dingen, den Dingen des Lebens, aber jetzt raunten sie besorgt und warnend … ja, warnend …

Doch wovor warnten sie? Er musste mehr erfahren.

Kalthar griff in den Beutel an seiner Hüfte und zog drei getrocknete, schwarze Blätter hervor. Sie waren fast alles, was noch von einer einzelnen Pflanze übrig war, die er vor langer Zeit aus der alten Orc-Welt mitgebracht hatte. Man hatte Kalthar ermahnt, sie nicht zu benutzen, es sei denn, er hielt es für absolut notwendig. Seine Vater hatte diese Blätter niemals gebraucht, auch sein Großvater nicht.

Der Schamane warf sie in die Flammen.

Sofort verwandelte sich der Rauch in ein dickes, wirbelndes Dunkel. Nicht länger schwarz, sondern blau. Die Brauen des Orcs fürchten sich angesichts dieses Farbwechsels, dann lehnte er sich wieder weit vor und saugte so viel von den Dämpfen in seine Lungen, wie er nur konnte.

Die Welt verwandelte sich und mit ihr der Orc. Er war ein Vogel geworden, der seine riesigen Schwingen ausbreitete, während er über die Landschaft hinweg glitt. Er flog sorglos über die Berge, und sein Blick erfasste die kleinsten Tiere, die entferntesten Flüsse. Ein Hochgefühl, wie er es seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte, erfüllte Kalthar, aber er kämpfte gegen diese Freude an. Wenn er ihr nachgab, riskierte er, sein Gespür für sein eigenes Ich zu verlieren. Dann würde er für immer als Vogel weiterfliegen und sich nicht mehr daran erinnern, wer und was er einmal war.

Und während er noch diese Gefahren bedachte, bemerkte Kalthar plötzlich, dass im Wesen der Welt etwas falsch war. Möglicherweise lag hier der Grund für die Angst in den Stimmen. Etwas war, das nicht sein sollte. Er wandte sich in die Richtung, aus der er es zu spüren glaubte, und wurde immer banger, je näher er ihm kam.

Und in der tiefsten Schlucht der Bergkette entdeckte der Schamane die Quelle seiner Furcht.

Sein gelehrter Geist wusste, dass seine Seele in einer Vision einem Konzept gegenüberstand, dass nichts von dem, was er hier erfuhr, wirklich real war, nichts tatsächlich existierte. All dies wusste er. Aber er glaubte es nicht. Alles war so wirklich.

Kalthar erschien es als ein Wasserstrudel – doch einer, der die Dinge gleichzeitig verschlang und ausspie. Und das, was aus den Tiefen erschien und in ihnen verschwand, waren Tage und Nächte, Monate und Jahre. Der Trichter schien die Zeit selbst hinunterzuschlingen und wieder auszuspeien.

Die Vorstellung entsetzte und verwirrte den Schamanen so sehr, dass er erst, als es schon beinahe zu spät war, bemerkte, dass der Trichter jetzt versuchte, auch ihn einzusaugen.

Sofort strengte Kalthar seine Vogelgestalt an, um sich zu befreien. Er flatterte mit den Flügeln, legte all seine Kraft in die Muskulatur. Sein Geist griff nach dem alten Leib, der am Feuer saß, zerrte hart an dem hauchdünnen Band, das Körper und Seele verband und versuchte, die Trance zu brechen.

Noch immer zog ihn der Trichter auf sich zu.

Verzweifelt rief Kalthar nach den Geistern, die ihn auf seinem schamanischen Weg führten, betete zu ihnen, sie mögen ihm Stärke verleihen. Sie kamen – wie er gewusst hatte, dass sie kommen würden –, doch zuerst schienen sie zu langsam zu arbeiten. Der Trichter des Strudels füllte seine gesamte Sicht aus, schien bereit, ihn zu vertilgen.

Plötzlich wirbelte die Welt um den Schamanen. Der Trichter, die Berge … alles drehte und drehte sich …

… und mit einem Aufkeuchen erwachte Kalthar.

Erschöpfter als er es jemals zuvor gewesen war, konnte er nur knapp verhindern, dass sein Körper mit dem Gesicht voran ins Feuer stürzte. Er fing sich mit beiden Händen auf. Die ständig murmelnden Stimmen waren verschwunden. Der Orc lag auf dem Boden seiner Hütte und versuchte sich zu beteuern, dass er – ja, ganz gewiss! – jetzt wieder ganz in der sterblichen Welt existierte. Die Geister hatten ihn gerettet, wenn auch in allerletzter Sekunde.

Aber mit dieser glücklichen Gewissheit kam die Erinnerung an die Geschehnisse, deren Zeuge er in seiner Vision geworden war … und an das, was sie bedeuteten.

»Ich muss Thrall davon erzählen«, murmelte er und kämpfte sich auf seine müden, alten Beine. »Ich muss es ihm schnell berichten … oder wir verlieren unsere Heimat … unsere Welt … ein weiteres Mal!«