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Avery kochte das Essen. Sie würden in der Küche essen müssen, denn die Platte des Eßtischs im Wohnzimmer war fast vollständig unter einem großen und wunderschönen Arbeitsmodell für die Bühne von Onkel Wanja verschwunden. Tim hatte die letzte Stunde mit einer Taschenlampe und Gelatinescheibchen verbracht, um mit dem Licht zu experimentieren und sich Notizen zu machen. Er persönlich fand zwar, daß der Hauptraum im Bühnenaufbau so aussah, als gehöre er zu einer Villa in New Orleans und nicht zu einem russischen Landhaus der Jahrhundertwende, aber es war unbe-zweifelbar, daß der Raum, vor allem dann, wenn die Jalousien geschlossen waren und das Licht durch die Spalten fiel und Streifen auf die Möbel warf, ein Gefühl von Enge und Ausweglosigkeit ausstrahlte.

»Ich hoffe, du verstehst, daß es heute nur eine Kleinigkeit gibt.«

»Das hast du mir schon gesagt.« Tim wandte seine Aufmerksamkeit Averys Garten zu, der wunderbar hell und luftig war, und er stellte sich diesen Garten unter einem strahlend blauen Himmel vor. Dann ging er zur Vorratskammer, wählte eine Flasche 86er Mercurey, Clos du Roy, und setzte den Korkenzieher an. »Um was für eine Kleinigkeit handelt es sich denn?«

»Rochen.«

Tim füllte zwei Gläser mit Wein und stellte eines neben den Herd. Dann nahm er Floyd über Fisch in die Hand. »Ich dachte, du hättest gesagt, das Buch sei nicht gut.«

»Man darf in solchen Dingen nicht zu puristisch sein. Joyce wollte es nicht behalten - verständlich unter diesen Umständen -, also habe ich ihr den Gefallen getan und es genommen. Um ehrlich zu sein...«, er kostete den Saft in der Pfanne - »...glaube ich inzwischen, daß es sogar ganz ordentlich ist.«

Im stillen verfluchte sich Avery dafür, daß er das Buch hervorgeholt hatte (es war von ihm hinten im Schrank mit den Geschirrtüchern verstaut worden). Das letzte, was er wollte, war, Tim die Begleitumstände von Esslyns Tod ins Gedächtnis zurückzurufen. Tim hatte Avery (und Barnaby) nämlich gestanden, daß er von dem Plan, Harold abzusetzen, gewußt, allerdings keine Kenntnisse von der Erpressung gehabt hatte. Esslyn hatte ihm nur zugesichert, daß keine Einmischung seinerseits in den Bereichen Licht und Gestaltung zu erwarten war, wenn er erst einmal die Leitung übernommen hätte, und Tim hatte daher keinen Grund gesehen, wieso er sein Licht nicht schon bei der Premiere einsetzen sollte.

Jetzt, nachdem der Ausgang der Geschichte allseits bekannt war, machte er sich natürlich Vorwürfe. Hätte er es nicht für sich behalten, es wenigstens Avery gesagt - und damit auch der gesamten Truppe dann wäre Esslyn vermutlich noch am Leben. Noch Wochen nach Harolds Festnahme saß Tim melancholisch und mit Schuldgefühlen zu Hause herum. Er konnte kaum etwas essen und hatte auch kein Interesse an dem Laden mehr, der Avery gerade in der vorweihnachtlichen Einkaufszeit fast in den Wahnsinn getrieben hätte, obwohl Nicholas seinen Job im Supermarkt gekündigt hatte, um ihm zu helfen.

Außerdem machten Avery arg seine eigenen Gefühle zu schaffen. Da war zum Beispiel eine gewisse Enttäuschung darüber, daß Tims mutiger und großzügiger Umgang mit dem Licht im Grunde ja gar kein Risiko beinhaltet hatte, da er nun mal wußte, daß Harold abgesetzt werden sollte. Aber Avery bemühte sich großmütig, mit der Tatsache zu leben, daß eine kleine Illusion geplatzt war, und er fuhr fort, umwerfende Mahlzeiten zu kochen, wenn er nicht gerade an den Laden gebunden war oder bis Mitternacht mit Bestellungen zu tun hatte.

Mittlerweile jedoch ging es Tim wieder besser. Er war fast wieder der alte. Avery leerte sein Glas und lächelte seinen Gefährten an.

»Kipp den Wein doch nicht so runter. Es ist ein Premier Cru.«

»Wie kommst du voran?« Avery richtete den Rochen auf einem ovalen Teller an, und Riley, der sich auf dem Küchenhocker wie ein Fellkissen zusammengerollt hatte, sprang (oder besser gesagt, plumpste) auf den Boden. Seit Sunny regelmäßig das Theater besuchte, hatte Riley sich geweigert, das Gebäude zu betreten, war abgemagert und hatte naß, zitternd und heruntergekommen im Hof bei den Mülltonnen gelebt. Avery hatte das nicht lange mitansehen können, und jetzt lebte der Kater im Haus und führte, zufrieden, wieder bei Kräften und in der Behaglichkeit eines privaten Heims, endlich das Leben, von dem er in seinen tiefsten und geheimsten Träumen immer geglaubt hatte, daß es ihm zustand. Er trottete gerade zu seinem Napf hinüber und nahm mit Appetit den Fisch in Angriff. Der war zwar nicht so gut wie der Pheasant Périgord, den er gestern zu Abend verspeist hatte, aber er war danach bereit, ihm eine Acht auf seiner bis Zehn gehenden Bewertungsskala zu geben.

»Ich habe noch Zimteis zum Nachtisch.«

»Mein Lieblingsnachtisch.«

Avery streute etwas Petersilie über das Gemüse. »Aber ich hatte heute einfach keine Zeit mehr, einkaufen zu gehen, und daher mußte ich leider gefrorene Babykarotten nehmen.«

»Mein Gott!« Tim knallte das Messer, mit dem er das Baguette geschnitten hatte, auf den Tisch. »Und ich habe immer geglaubt, ich hätte es hier mit einem Haus zu tun, das fünf Sterne verdient.«

»Aber nicht wegen des Essens, Entchen.« Das brachte Tim zum Lachen. Das erste echte Lachen, das Avery seit Wochen von ihm gehört hatte. Sie fingen an zu essen. »Wie schmeckt es dir?«

»Köstlich.«

»Was meinst du...«, nuschelte Avery.

»Rede doch nicht mit vollem Mund.«

Avery schluckte und trank etwas Wein. »Dieser Stoff ist das reinste Ambrosia. Was, meinst du, sollten wir Nicholas zum Abschied schenken?«

»Wir haben ihm doch schon Das Jahr des Königs geschenkt.«

»Aber das war ja schon vor Wochen. Jetzt bleibt er noch für Wanja hier. Sollten wir ihm da nicht etwas anderes schenken?«

»Ich wüßte nicht, wieso. Außerhalb der Proben sehen wir ihn doch ohnehin kaum noch. Und Cully bekommen wir auch nicht öfter zu Gesicht.«

»Die hat vielleicht Talent.«

»Es ist geradezu erschreckend. Ich dachte schon, Nico wäre gut, aber die verleiht der ganzen Bühne ungeheuren Glanz.«

»Tim... tut es dir nicht leid... daß Kitty fort ist?«

»Natürlich nicht... fang jetzt bloß nicht wieder davon an.«

»Nein, ganz bestimmt nicht, ehrlich.«

Und er fing auch wirklich nicht wieder davon an. Avery, der den ersten wirklich bedrohlichen Schlag gegen die Beziehung, die der Grundpfeiler seiner Existenz war, irgendwo in den unerreichbaren Tiefen seines Herzens vergraben hatte, erlebte jetzt ganz unerwartet einen tiefen und beständigen inneren Frieden. Er verstand es selbst nicht ganz. Es war nicht etwa so, daß er nun glaubte, Tim würde nie wieder fremdgehen. Oder daß sogar er selbst, bei irgendeiner künftigen Gelegenheit, nicht auch fremdgehen würde (obwohl ihm das ziemlich unwahrscheinlich vorkam). Es schien eher so, als hätte seine Persönlichkeit irgendwie eine zusätzliche Dimension entwickelt, in der Verletzungen und unliebsame Überraschungen absorbiert oder sogar neutralisiert werden konnten. Die Dankbarkeit für diese unerwartete und erstaunliche Entwicklung der Dinge und für den Umstand, daß er damit weiterleben konnte, brach erneut über ihn herein, und er lächelte.

»Was strahlst du denn so albern?«

»Tu’ ich doch gar nicht.«

»Du siehst schrecklich aus.«

»Oh... ich habe bloß daran gedacht, wie schön es ist, daß die Guten glücklich und die Bösen unglücklich enden.«

»Ich dachte, das wäre nur im Film so.«

»Nicht immer«, entgegnete Avery und schenkte ihnen noch etwas Wein nach.

»Können Sie mich mitnehmen und mich zu Hause absetzen?«

Barnaby und Troy waren gerade dabei, das Büro zu verlassen. Troy, der seinen Trenchcoat eng gegürtet hatte und ein Päckchen Silk Cut in der Hand hielt, sehnte sich schon nach dem ersten rauchig kühlen Lungenzug. Barnaby schlüpfte in seinen Mantel und ergänzte: »Es liegt doch auf Ihrem Heimweg.« Als der Sergeant immer noch nicht antwortete, fügte der Inspektor hinzu: »Sie dürfen auch rauchen, wenn Sie möchten.«