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Barnaby bedeckte den Mund mit der Hand und hüstelte. Bevor sie sich auf den Weg zur Haustür machten, nahm Miss Bellringer ein mit Plastikblümchen gerahmtes Foto in die Hand. »Das ist Emily. Damals war sie achtzehn. Wir hatten gerade angefangen zu unterrichten.«

Barnaby betrachtete die vergilbte Fotografie. Sie war in einem Studio aufgenommen worden. Lucy Beilringer stand neben einem Pflanztrog mit Palme. Emily Simpson saß auf einem Stuhl und sah direkt in die Kamera. Ihr helles Haar war zu einem Chignon geschlungen. Sie hatte weit auseinanderstehende, klare Augen und einen entschlossenen Mund. Ihr wadenlanger Rock und die weiße Bluse wirkten steif. Lucy lächelte breit. Ihr Haarknoten war etwas verrutscht, und der Rocksaum hing auf einer Seite zu weit herunter. Eine Hand hatte sie beschützerisch auf die Schulter ihrer Freundin gelegt.

»Was haben Sie unterrichtet?« erkundigte sich Barnaby, als er ihr das Foto zurückgab.

»Mein Hauptfach war Musik. Und Emilys Englisch. Aber wir haben selbstverständlich auch alle anderen Fächer gelehrt. Das war so zu unserer Zeit.« Sie begleitete ihn zur Tür. »Die Schule gibt’s nicht mehr. Das Gebäude ist zu Wohnungen umgebaut worden. Lauter schreckliche Leute aus London treiben sich dort herum.«

»Ach, übrigens«, Barnaby drehte sich noch einmal zu ihr um, »hatte Ihre Freundin Mäuse im Haus?«

»Lieber Himmel, nein! Bei ihr war alles peinlich sauber. Emily verabscheute Mäuse. Sie hatte überall diese Kügelchen, die Mäuse vertreiben. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Chief Inspector.«

3

»Doktor Bullard ist vermutlich nicht im Haus, oder?«

»O doch, er ist hier, Sir«, erwiderte der diensthabende Sergeant. »Er hat heute morgen bei Gericht eine Aussage gemacht, dann ging er ins Labor.«

Die Polizistin Brierly, die hinter einer gläsernen Trennwand saß, rief: »Er ist gerade in die Kantine gegangen.«

Jeder im Polizeirevier beklagte sich über das Kantinenessen, nur für Chief Inspector Barnabys gemarterte Geschmacksnerven waren die Speisen geradezu lukullisch. Diese Nörgler sollten mal bei Barnabys essen, dachte er, als er sich Hackfleischauflauf, aufgeweichte Pommes frites und gräulich verfärbte, matschige Erbsen auf den Teller häufte. Dann würden sie in Zukunft den Mund halten. Er nahm sich noch eine Extrascheibe von dem Hackbraten und sah sich um. Der Doktor saß allein an einem Tisch neben dem Fenster.

»Hallo, Tom«, rief Doktor Bullard. »Was führt Sie an diesen traurigen Ort?«

»Und was bringt Sie hierher?« fragte Barnaby zurück. Er setzte sich und fing an zu spachteln.

»Meine Frau ist im Ikebana-Kurs.«

»Ah. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.«

»Nur zu«, forderte der Doktor ihn auf und schob die Reste seines überwürzten Schellfischs zur Seite, um sich skeptisch der Süßspeise zu widmen.

»Eine alte Dame ist gestürzt und wurde am nächsten Morgen vom Postboten tot aufgefunden. Leider ist das nichts Ungewöhnliches. Aber sie hat am Nachmittag zuvor irgend etwas gesehen, möglicherweise im Wald in der Nähe ihres Hauses, und das muß sie erheblich aus dem Gleichgewicht gebracht haben. So sehr, daß sie bei den Samaritern anrief, um darüber zu reden, aber bevor sie sagen konnte, worum es sich handelte, klopfte jemand an ihre Tür. Mehr wissen wir nicht.«

»Und?« Doktor Bullard zuckte mit den Schultern. »Auch das sind kaum bemerkenswerte Vorkommnisse.«

»Ich hätte gern, daß Sie sich ihre Leiche ansehen.«

»Wer hat den Totenschein ausgestellt?«

»Lessiter. Badger's Drift.«

»Ohh...«, George Bullard blies die Wangen auf und legte die Fingerspitzen aneinander. »Na ja, es wäre nicht das erste Mal, daß ich ihm in die Quere komme.«

»Was halten Sie von ihm?«

»Kommen Sie, Tom - wie können Sie mich so was fragen?«

»Entschuldigung.«

»Lieber Gott, das nennen Sie hier Süßspeise? Das Zeug ist steinhart.« Er bearbeitete die Masse mit dem Löffel. »Ich kann Ihnen über Lessiter sagen, was allgemein bekannt ist. Er hat eine Menge Privatpatienten und führt ein ziemlich aufwendiges Leben. Er ist in zweiter Ehe mit einer umwerfenden Frau verheiratet, seine Tochter hingegen ist alles andere als umwerfend - sie ist ungefähr im gleichen Alter wie meine Karen. Beinahe neunzehn.«

»Könnten Sie heute nachmittag einen Blick auf die Leiche werfen?«

»Hmm. Ich muß um drei in der Klinik sein; vielleicht sollten wir uns sofort auf den Weg machen.« Es gab nur zwei Bestattungsinstitute in Causton. Brown’s war das exklusivere von beiden. Das Schaufenster von Brown’s war mit verknittertem Satin ausgelegt, und in der Mitte stand eine schimmernd schwarze Basalturne mit weißen Lilien. In die Urne war eingraviert: »Bis der Tag anbricht und die Schatten fliehen.« Auf dem Platz vor dem Gebäude parkte ein neuer silberner Porsche 924, er blitzte im Sonnenschein.

»Wunderschön.« Doktor Bullard strich liebevoll über die Karosserie. »Von Null auf Hundert in neun Sekunden.«

Barnaby stellte sich vor, in den niedrigen Sitz gequetscht zu sein. Den rot-schwarz karierten Bezugsstoff fand er extrem scheußlich. Er war sich bewußt, daß er auf Grund seiner Ansichten wie auch seiner finanziellen Möglichkeiten immer ein durchschnittlicher Familienvater bleiben würde. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß diese Burschen so viel Geld verdienen«, sagte er, als er die Glastür aufstieß.

»Sie haben auch immer gut zu tun«, entgegnete der Doktor vergnügt. »Eines ist zumindest immer sicher - die Menschen müssen alle irgendwann mal ins Gras beißen.«

Gedämpft und feierlich schlug die Türglocke an und ließ einen jungen, fast farblos wirkenden jungen Mann aufblicken, der lautlos durch die schweren Samtvorhänge aus dem Nebenzimmer glitt. Er trug einen schwarzen Anzug, war blaß und hatte glatt gekämmtes Haar, bleiche Hände und helle, berechnende Augen. Er war drauf und dran, eine salbungsvolle Rede vom Stapel zu lassen, aber dann betrachtete er die beiden Männer genauer und ließ einen anderen Ausdruck in seinem Gesicht erscheinen. »Doktor Bullard, nicht wahr?«

»Ganz recht. Und Sie sind ... nein, sagen Sie es mir nicht ... Mr. Rainbird?«

»Gutes Gedächtnis!« Der junge Mann lächelte erfreut, aber seine Augen veränderten sich kein bißchen. Er schien durch die Haut zu strahlen. »Dennis, der Quälgeist«, setzte er offenbar ganz ernst hinzu und wandte sich fragend an den Begleiter des Arztes.

»Das ist Detective Inspector Barnaby. Causton CID.«

»Liebe Güte ...« Dennis Rainbirds Blick streifte kurz den Chief Inspector. »Sie werden hier keine Unregelmäßigkeiten finden. Wir sind die reinen Unschuldsengel.«

Barnaby übergab ihm das Schreiben von Miss Bellringer. »Wir würden uns gern die Leiche von Emily Simpson ansehen, wenn Sie so freundlich wären.« Er beobachtete aufmerksam Rainbirds Gesicht. Extreme Neugier und Aufregung flackerten für den Bruchteil einer Sekunde in seiner Miene auf.

»Aber selbstverständlich«, rief Mr. Rainbird, während er die Einverständniserklärung las, dann huschte er durch den Vorhang. »Wir stehen den Hütern des Gesetzes stets zu Diensten.« Er benahm sich, als wäre Barnabys Ansinnen etwas ganz Alltägliches.

Sie standen neben dem Sarg. Barnaby betrachtete die hagere, in weiße Laken gehüllte Leiche. Sie sah ausgesprochen sauber aus und wirkte ausgedörrt, als wäre der Lebenssaft nicht erst kürzlich, sondern schon vor Jahren aus diesem Körper gewichen. Kaum zu glauben, daß dies einmal ein junges Mädchen mit klaren Augen und einem eleganten Chignon gewesen war.

»Da hinten liegen Hunderte von Kränzen. Sie war sehr beliebt«, bemerkte Mr. Rainbird. »Sie war die Lehrerin von meiner Mutter und all meinen Tanten, wissen Sie.«

»Ja. Dann - vielen Dank.« Barnaby fing einen ärgerlichen, fast gehässigen Blick auf, den er gelassen erwiderte. Mr. Rainbird zuckte mit den Achseln und verschwand.