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Vorsichtig stand ich auf und beugte mich über ihn. Er war verstummt, atmete gleichmäßig und ruhig. Ich zog seine Decke zurecht und trat ans Fenster. Es befand sich nicht weit über dem Boden und ließ sich zum Glück leicht und geräuschlos öffnen. Ein Schwall kalter Luft schlug mir entgegen. Rasch zog ich mir noch ein herumliegendes Sweatshirt über, dann stieg ich auf den Wehrgang hinaus.

Der Himmel war bedeckt, nur in einer kleinen Wolkenlücke blinkte ein Sternbild, das ich nicht kannte. Es bestand aus einigen sehr hellen Sternen, die einen regelmäßigen Kreis bildeten. Ich weiß ja nicht, wie es auf der südlichen Hemisphäre aussieht, aber an unserem Himmel gibt es keine solchen Sternbilder. Am irdischen Himmel, meine ich natürlich.

»Ich nenne dich das Auge des Außerirdischen«, flüsterte ich und kicherte verkrampft. Um ehrlich zu sein, mir war nicht zum Lachen zumute. Mit tastenden Schritten machte ich mich zum zweiten Mal an diesem Tag auf den Weg zum Scheitelpunkt der Brücke.

Immer wenn ich mich umdrehte, sah ich die schummrige Silhouette der Burg, die mit der Finsternis verschmolz, nicht ein einziges Fenster war erleuchtet. Das Auge des Außerirdischen wurde immer wieder von den Wolken verschluckt, ja gelegentlich erschien es mir so, als ob die Wolken selbst ein schwaches Licht aussendeten. Sonst konnte man nicht die Hand vor Augen sehen. Da ich mich bereits der Mitte der Brücke näherte, musste ich aufpassen,

Einige Schritte später wurde mir klar, dass meine Anspannung überflüssig gewesen war. Inga hatte eine Laterne dabei.

Sie saß am Ende ihrer Brückenhälfte und ließ die Beine in den Abgrund baumeln. Der Spalt zwischen uns war etwa fünf Meter breit. Tief unten schäumte leise grummelnd das Meer. Neben Inga stand eine altertümliche Blechlaterne, in der eine rote Kerze brannte. Neben der Laterne lag ein aufgerolltes Seil.

»Bist du’s?«, flüsterte sie, hob die Laterne etwas an und spähte mit angestrengtem Blick zu mir herüber. Dann wickelte sie das Seil ab. Meine Zweifel waren unbegründet gewesen: Natürlich war das Inga.

»Fang!«, rief sie mir zu.

Das rutschige Nylonseil klatschte mir gegen die Beine und rutschte dann in den Abgrund. Erst beim dritten Versuch bekam ich es zu fassen und konnte es am Geländer der Balustrade festbinden. Inga zog das Seil an und vertäute das andere Ende auf ihrer Seite.

Nachdem sie es mit einem kräftigen Ruck auf seine Festigkeit geprüft hatte und mit dem Ergebnis offenbar

Erst jetzt verstand ich, was ich zu tun hatte. Natürlich ist es keine Heldentat, ein paar Meter weit an einem Seil entlangzuklettern, sofern dieses Seil zum Beispiel über einen stillen Bach oder über Schaumstoffmatten gespannt ist. Hier jedoch dräute in hundert Metern Tiefe der schwarze Rachen des nächtlichen Meeres, was dem Unterfangen einen nicht unerheblichen Nervenkitzel verlieh.

In die Leine greifend, sah ich noch einmal zu Inga hinüber, die reglos verharrte, dann begann ich mich über den Abgrund zu hangeln. Angst empfand ich eigentlich keine, was womöglich daran lag, dass ich in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie weit es hinunterging, und mir daher alles sehr unwirklich vorkam. Als ich jedoch schließlich auf der anderen Hälfte der Brücke angekommen war und wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wollten meine Hände das Seil gar nicht mehr loslassen. Immer noch daran festgekrallt, blickte ich Inga schweigend an.

»War doch nicht schwierig, oder?«, fragte sie schnippisch.

»Kinderkram«, gab ich achselzuckend zurück. »Eine meiner leichtesten Übungen. Ist dir nicht kalt?«

Inga hatte eine dunkelblaue Windjacke an, die ihr zwei Nummern zu groß war.

»Nein«, entgegnete sie einsilbig.

Wir brachten beide kein Wort mehr heraus. Verlegen schob ich die Laterne, die ziemlich nahe am Rand der Brücke stand, mit dem Fuß ein Stückchen weiter nach innen und vermied es, Inga in die Augen zu schauen.

Unser Gespräch kam nur äußerst mühsam in Gang. Wäre an Ingas Stelle ein befreundeter Junge gewesen, hätten wir in dieser Situation sicher herumgefeixt und uns ausgelassen über unseren Coup gefreut. Selbst gegenüber einem anderen Mädchen aus meiner Klasse hätte ich mich ungezwungener verhalten. Begegnungen mit Inga hingegen begannen schon seit einem Jahr stets mit einem hochnotpeinlichen Gewürge, obwohl wir uns schon von Kind auf kannten.

»Erstaunlich, dass wir zusammen hier gelandet sind«, brach ich endlich das Schweigen.

»Erstaunlich, dass wir überhaupt hier sind«, verbesserte mich Inga.

Leichter Groll stieg in mir auf. Sie hätte wenigstens einen Ansatz von Freude darüber zeigen können, dass wir uns getroffen hatten. Stattdessen stand sie verstockt da und starrte in die Luft, als wäre ihr unerträglich langweilig. Ich sah sie herausfordernd an. Da bemerkte ich, dass sie keineswegs ruhig und gleichgültig war. Vielmehr wirkte sie angespannt und deprimiert.

»Was hast du denn, Inga?«, fragte ich irritiert.

Endlich sah sie mir in die Augen.

»Dima, wie steht es bei mir zu Hause? Machen meine Eltern sich große Sorgen?«

»Ich weiß nicht, ich war schon länger nicht mehr bei euch.«

»Seit einem ganzen Monat nicht mehr?«

»Wieso seit einem Monat?«

Mir kam der Gedanke, dass Ingas Eltern im Fall ihres Verschwindens mit Sicherheit bei meinen Eltern angerufen hätten. Außerdem hätten sie bestimmt auch mich gefragt, ob ich nicht wisse, wo sie steckt.

»Wieso seit einem Monat?«, wiederholte ich meine Frage. »Wir haben doch vor drei Tagen noch telefoniert. Und bei euch zu Hause war ich zuletzt vergangene Woche, als wir zusammen im Kino waren und ich dich abgeholt habe.«

»Ich war letzte Woche nicht im Kino«, sagte sie in einem Ton, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. »Ich hatte Küchendienst in unserer Burg.«

»Und mit wem, bitte schön, war ich dann im Kino?«, fragte ich ironisch.

»Keine Ahnung«, fauchte Inga. »Tut mir leid für dich, wenn du das selbst nicht mehr weißt.«

Ratlos stützte ich mich aufs Geländer und starrte grübelnd in die Nacht.

»Bist du schon lange auf der Insel?«, fragte ich mit versöhnlichem Ton.

»Einen Monat«, erwiderte sie knapp.

Langsam dämmerte es mir.

»Inga«, sagte ich mit fester Stimme, »wir waren vor einer Woche definitiv im Kino. Danach haben wir noch mehrmals telefoniert. Ich bin vor zwei Tagen auf die Insel gekommen.«

Inga trat neben mich und berührte mit ihren zarten Fingern meine Hand. Ich zuckte zusammen.

»Dima, sagst du die Wahrheit? Oder willst du nur, dass ich mir keine Sorgen mache?«

»Wir wurden überhaupt nicht von der Erde entführt, Inga. Man hat uns kopiert!«

»Dann sind wir also unsere eigenen Doppelgänger?«

»Genau.«

Plötzlich setzte Inga ein sanftes Lächeln auf, zum ersten Mal, seitdem wir uns getroffen hatten. Mit einem

»Das nützt uns doch überhaupt nichts«, sagte ich wütend. »Was haben wir davon, dass unsere Doppelgänger zu Hause sind - wir sind ja trotzdem hier!«

Inga schaute mich mit großen Augen an.

»Was heißt hier ›Was haben wir davon‹? Und unsere Eltern? An die denkst du gar nicht, oder?«, fragte sie und durchbohrte mich buchstäblich mit ihrem Blick.

Ich spürte, wie ich rot wurde. Inga hatte natürlich recht. Wenn unsere Doppelgänger zu Hause geblieben waren, würden sich unsere Eltern keine Sorgen machen, denn sie wussten ja nicht, wo wir hingeraten waren. Trotzdem sträubte sich alles in mir bei dem Gedanken, dass ich nicht ich selbst, sondern nur eine Kopie von mir war. So elend und verloren hatte ich mich noch nie zuvor gefühlt. Obwohl - eigentlich war ich vor allem böse auf mich selbst.

Inga war nun wieder ganz die Alte: In ihr Lächeln mischten sich Übermut und eine Spur Durchtriebenheit.

»Dima, ich bin wirklich froh, dass du hier bist«, sagte sie feierlich.

»Vielen Dank«, entgegnete ich mit gespielter Förmlichkeit.