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Auf der anderen Seite ragten die Mauern Hillwood Manors auf.

Im ersten Moment glaubte Mark, noch immer in den Spinnweben eines Traums gefangen zu sein, der ihn bis in die Realität hinein verfolgte. Er blinzelte noch ein paarmal und erwartete, daß das alte Herrenhaus verschwand, sich als die Illusion entpuppte, die es nur sein konnte. Aber das tat es nicht. So schwer es Mark auch fiel, sich das vorzustellen, er war fast zweihundert Meilen von der niedergebrannten Farm entfernt aufgewacht!

Er fuhr herum, sah sich um und sprang mit einem Satz auf die Füße, als er Vivian wenige Meter neben sich im Gras liegen sah. Mit einem Satz war Mark bei ihr. Vivian war bei Bewußtsein. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber Mark hatte den Eindruck, daß sie ihn überhaupt nicht wahrnahm. Ihr Blick schien direkt durch ihn hindurchzugehen und auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter seinem Rücken gerichtet zu sein. Sie bewegte die Lippen, aber alles, was Mark verstehen konnte, waren sinnlose, verworrene Satzfetzen und ein hohes, kindliches Wimmern.

Er kniete neben ihr nieder, legte ihren Kopf vorsichtig auf seinen Schoß und berührte mit einer hilflosen Geste ihre Stirn. »Kannst du mich ... verstehen?« fragte er stockend.

Zuerst schien es, als würde Vivian nicht reagieren. Aber dann, nach einer scheinbaren Ewigkeit, klärte sich ihr Blick. Sie bewegte den Kopf und nickte unmerklich.

»Hast du Schmerzen?«

Die Frage war mehr als überflüssig. Vivians Körper war über und über von Brandwunden und Hautabschürfungen entstellt, und ihre rechte Gesichtshälfte war geschwollen und dunkel angelaufen. Trotzdem schüttelte sie den Kopf.

»Nein. Ich bin nur ... müde.«

»Versuch, ob du aufstehen kannst. Ich helfe dir. Es sind nur ein paar Schritte zum Haus.«

Vivian richtete sich mit erstaunlicher Kraft in eine sitzende Position auf. »Wie ... wie sind wir hierher gekommen?«

Mark zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nur noch, wie die Farm abgebrannt ist und ich mit dir aus dem brennenden Haus geflohen bin. Dann wurde ich ohnmächtig, und als ich wieder erwachte, befanden wir uns hier.«

»Die Farm ist abgebrannt?«

Mark nickte. Ein bitterer Kloß saß ihm plötzlich im Hals. »Die Hedons haben versucht, uns umzubringen.«

»Ich erinnere mich vage«, stammelte Vivian. »Es war ein ... Inferno. Ich hatte solche Angst, und dann ...« Ein entsetzter Ausdruck trat in ihre Augen. »Mark, ich wollte das nicht, das mußt du mir glauben! Es war nicht ich, die das getan hat. Es kam einfach über mich. Ich konnte mich nicht dagegen wehren.«

»Ich glaube dir ja«, murmelte Mark. »Wir können später darüber reden. Denkst du, du schaffst es, aufzustehen?«

Vivian nickte. Sie stemmte sich langsam in die Höhe, doch Mark mußte ihr dabei helfen. Zweimal wäre sie fast gestürzt, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Er hielt sie auch noch am Arm fest, als sie die ersten zögernden Schritte machte. Erst als sie einigermaßen sicher auf den Beinen stand, ließ er sie los.

»Versuchen wir es. Es ist nicht weit.«

Langsam näherten sie sich dem Haupteingang von Hillwood Manor. Nirgendwo zeigte sich ein Zeichen von Leben, das Anwesen schien wie ausgestorben. Das zweiflügelige Tor stand einladend offen.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte Mark, während sie in die große Eingangshalle traten. »Wo steckt das Personal? Und warum steht hier alles offen?«

»Melissa«, murmelte Vivian. »Wir ... wir haben uns getäuscht. Verdammt, ich hätte früher darauf kommen können.«

»Was meinst du?«

»Ich habe mir die ganze Zeit eingebildet, hier wären wir sicherer vor ihr als an irgendeinem anderen Ort. Dabei hat sie die ganze Zeit hier auf uns gewartet.«

»Ganz recht«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Gleichzeitig schlug das Tor mit dumpfem Dröhnen zu.

Mark drehte sich langsam herum - und erstarrte. Hinter ihm stand Melissa.

Es war das erste Mal, daß er das von Melissas Geist beherrschte Spiegelbild Vivians persönlich sah. Sekundenlang starrte er in das schmale, von schwarzem Haar umrahmte Gesicht, suchte fast verzweifelt nach irgendeiner Abweichung, einem Fehler, aber die Kopie war so perfekt, wie ein Spiegelbild nur sein konnte, sah man davon ab, daß die echte Vivian zerschunden und verletzt war.

Hinter Marks Stirn tobte ein Chaos. Er war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Plötzlich konnte er gut nachvollziehen, wie Vivian zumute gewesen sein mußte, als sie seinem eigenen negativen Spiegelbild gegenübergestanden hatte.

Melissa lächelte kalt. »Du hast recht, Vivian«, sagte sie spöttisch. Sie breitete die Arme aus. Der rote, lose fallende Umhang ließ ihre Gestalt größer und drohender erscheinen, als sie wirklich war. Eine seltsame Veränderung schien plötzlich mit ihrer Umgebung vorzugehen. Das durch die hohen Fenster hereinfallende Licht schien schwächer und diffuser zu werden. Die Möbelstücke verblaßten zu harten, skeletthaften Konturen. »Ich wußte ja, daß ihr kommen würdet und brauchte nur hier zu warten. Dieser Ort schien mir ideal für einen Entscheidungskampf.«

»Du ... du bist wahnsinnig«, flüsterte Mark.

»Bin ich das?« Melissa schüttelte den Kopf. »Ich tue nur, was sogar jeder halbwegs vernünftige Mensch an meiner Stelle tun würde. Ich werde den Taylor-Konzern regieren, aber das ist nur eine kleine Annehmlichkeit. Ich muß zugeben, es hat mich ziemlich überrascht, daß ihr es geschafft habt, lebend aus der Spiegelwelt zurückzukehren. Ich hatte gehofft, ihr würdet schon dort sterben, das wäre die einfachste Lösung gewesen, wenn auch etwas unbefriedigend für mich. Aber jetzt kann ich ja nachholen, was Moron versäumt hat.«

Mark atmete scharf ein, ballte die Fäuste und stellte sich schützend vor Vivian. »Du mußt mich schon mit umbringen, wenn du sie töten willst.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl«, entgegnete Melissa spöttisch. »Aber später - hab noch ein bißchen Geduld. Zuerst wirst du miterleben, wie deine Frau stirbt.«

Mark machte eine Bewegung, als wolle er auf sie zutreten, und blieb sofort wieder stehen, als Melissa drohend die Hand hob. Es war nicht einmal so, daß er Angst gehabt hätte - er wußte, daß dieser Teufel mit Vivians Gesicht die Macht besaß, ihn mit einem Fingerschnippen zu vernichten. Aber er hatte keine Angst vor dem Tod; nicht in diesem Moment. Alles, woran er dachte, war Vivian. Seine Gedanken überschlugen sich.

»Du kannst sie nicht töten!« sagte er.

»Ach?« Melissa lächelte zuckersüß, aber es war kein wirkliches Lächeln. In diesem Punkt war die Kopie nicht perfekt. So sehr sich Vivian und ihre schwarze Schwester auch ähneln mochten, so verschieden waren sie gleichzeitig auch. Es war kein Unterschied, der sichtbar gewesen wäre, aber dafür war er um so deutlicher zu fühlen. Diese Frau war kalt wie Eis. »Kann ich nicht?«

»Du würdest dich selbst umbringen!« sagte Mark. »Du hast es selbst gesagt - ihr zwei seid eins. Zwei Seiten der gleichen Münze. Du tötest dich selbst, wenn du sie umbringst.«

Melissas Blick wurde für einen Moment nachdenklich. Dann nickte sie, als hätte sie den Gedanken ernsthaft erwogen und zumindest in gewisser Hinsicht für interessant befunden. Aber ihr Blick blieb so kalt, wie er gewesen war. »Eine hübsche Theorie«, sagte sie. »Schade nur, daß sie falsch ist. Vivian und ich sind in der Tat zwei Erscheinungsformen ein und desselben Körpers, und in einem Punkt hast du sogar recht. Wir können nicht beide in dieser Welt leben. Einer von uns muß gehen. Und jetzt tritt zur Seite - bitte!«

Mark schüttelte entschlossen den Kopf. Ihm entging nicht der grausame Spott, der in Melissas Worten anklang. Vivian würde in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht einmal einen Kampf gegen einen normalen Menschen bestehen. Melissa hatte geschickt dafür gesorgt, daß sie mit ihren Kräften am Ende war. Plötzlich begriff er, welcher Sinn hinter dem Ganzen gesteckt hatte. Der Sturm, der Flugzeugabsturz, das Feuer - Melissa war es keine Sekunde lang darauf angekommen, Vivian zu töten. Alles hatte nur dem Zweck gedient, Vivian zum Einsatz ihrer paranormalen Kräfte zu zwingen, sie zu schwächen und der Hexe einen entscheidenden Vorteil für diesen Kampf zu verschaffen. Plötzlich war er nicht einmal mehr sicher, daß Melissa Vivian jemals wirklich hatte umbringen wollen. Vielleicht war es nicht der Tod, der ihr drohte, sondern etwas ungleich Schlimmeres.