Выбрать главу

»Sie hat recht, Mark«, ergriff Vivian das Wort. »Tu besser, was sie sagt. Dieser Kampf zwischen uns ist schon lange überfällig. Du kannst mir dabei nicht helfen.« Sie sah auf, blickte ihr Spiegelbild ein paar Sekunden lang auf eine Art an, die Mark einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, und fügte ganz leise und mit seltsamer Betonung hinzu: »Das hier geht nur uns beide etwas an.«

»Aber du kannst unmöglich kämpfen«, stieß er hervor. Seine Stimme brach fast vor Furcht. »Du bist viel zu schwach. Sie bringt dich um

»Du irrst dich, Mark«, sagte Vivian. »Sie wird mich nicht töten. Das hat sie niemals vorgehabt, weil sie es nämlich gar nicht kann - nicht wahr, Schwester?« Sie machte einen Schritt auf Melissa zu und blieb stehen, wie Mark vor ihr, aber nicht aus Angst; nicht aus Furcht um ihr Leben, sondern auf eine Weise, die Mark nicht in Worte fassen konnte.

Vielleicht zum ersten Mal, seit er Vivians dunkles Ebenbild kennengelernt hatte, sah er Unsicherheit in ihrem Blick; möglicherweise sogar wirkliche Angst. Er spürte auch, daß Melissa ebensowenig wie er wußte, was Vivian vorhatte. Mit einer herrischen Bewegung trat sie auf Vivian zu und hob die Hand. Mark wollte sich schützend vor Vivian stellen, aber Melissa fegte ihn einfach zu Boden; mit einer Bewegung des kleinen Fingers und fast, ohne ihn zu berühren. Er taumelte zurück, stürzte schwer auf den Rücken und unternahm keinen Versuch mehr, sich zu erheben.

»Was soll der Unsinn?« fragte Melissa. Der Zorn in ihrer Stimme überzeugte so wenig wie ihr Lächeln zuvor, denn es war jene Art von Schärfe, die Unsicherheit überspielen sollte. »Versuch nicht, mich auszutricksen. Ich weiß, wie du denkst. Ich bin du, vergiß das nicht.«

»Ich weiß«, sagte Vivian ruhig. »Ich habe es keine Sekunde vergessen. Niemals. Im Gegensatz zu dir.«

Melissas Augen wurden schmal wie die einer Katze, die eine Beute musterte, bei der sie sich noch nicht ganz sicher war, ob sie nun Opfer oder möglicherweise Jäger war. »Du bluffst«, sagte sie.

Vivian lächelte. Es war ein sehr trauriges, melancholisches Lächeln, ein Ausdruck, wie Mark ihn noch nie zuvor auf ihrem Gesicht gesehen hatte, und der ihm fast mehr angst machte als alles, was er in den letzten Stunden erlebt hatte.

Und ganz plötzlich wußte er, warum das so war, denn er begriff mit einem Male, was dieses Lächeln bedeutete.

Aber es war zu spät.

Vivian drehte sich zu ihm herum und öffnete die Hand, und in derselben Sekunde sah er, was sie darin verborgen gehabt hatte. Er hatte es nicht gemerkt, obwohl sie es die ganze Zeit über bei sich gehabt haben mußte. Vivian mußte all ihre verbliebene Macht aufgewandt haben, um es zu verbergen. Er hatte es nicht bemerkt. Niemand hatte es gemerkt, auch Melissa nicht.

»Es tut mir leid, Mark«, sagte Vivian. »Bitte verzeih mir.« Und damit drehte sie sich wieder zu Melissa um und hob die Hand, und endlich sah auch sie, was darin blitzte: die zehn Zentimeter lange Klinge des Dolches, mit dem Hedon sie hatte opfern wollen.

In der ersten Sekunde war Melissa einfach fassungslos. Dann lachte sie, schrill und so laut, daß es fast in Marks Ohren schmerzte.

Und dann brach dieses Lachen unvermittelt ab und machte purem Entsetzen Platz.

»Nein!« schrie sie. »Das kannst du nicht tun! DAS WAGST DU NICHT!«

Auch Mark schrie entsetzt auf und versuchte auf die Beine zu kommen, um sich auf Vivian zu stürzen, und im gleichen Bruchteil einer Sekunde spürte er, wie Melissa all ihre mentalen Kräfte zu einem einzigen, gewaltigen Schlag sammelte. Vivian sprang vor, streckte den linken Arm aus und krallte die Hand in Melissas Haar. Blaues Elmsfeuer zuckte aus ihren Fingerspitzen, ein helles, elektrisches Knistern war zu hören, und für eine halbe Sekunde waren ihre beiden Gestalten von zitternden blauen Lichtfäden umhüllt. Noch immer tobten Funken über ihre Körper, ein verzehrendes blaues Feuer, das sie beide aneinanderkettete. Vivians letztes, verzweifeltes Aufbegehren, in dem der Rest Kraft lag, den sie noch besaß.

Und der Dolch berührte beinahe sanft Vivians Brust und senkte sich bis zum Heft hinein.

Melissa schrie wie in unvorstellbarer Qual auf. Verzweifelt warf sie sich zurück, schlug mit der einen Hand nach Vivians Gesicht und versuchte mit der anderen, ihre Finger aus ihrem Haar zu lösen, aber es gelang ihr nicht. Vivian brach ganz langsam in die Knie und zog sie dabei mit sich, und ihre Finger hatten sich unlösbar in Melissas Haar gekrallt. Sie sank vollends auf die Knie herab, blieb einen Moment lang wankend sitzen und kippte dann zur Seite. Ihre Finger lösten sich aus Melissas Haar, und ihr dunkles Ebenbild riß sich mit einem Schrei vollkommen los, sprang wieder in die Höhe und stürzte in der gleichen Bewegung zu Boden.

Mark hatte Vivian endlich erreicht. Mit einem Schrei fiel er neben ihr auf die Knie und streckte die Hände nach ihr aus. Aber er wagte es nicht, sie zu berühren, als er ihrem Blick begegnete.

Sie starb. In ihren erlöschenden Augen war noch ein winziger Funke von Leben, aber er war nicht einmal sicher, ob er noch ausreichte, sie ihn erkennen zu lassen. Ihre rechte Hand löste sich vom Griff des Dolches und sank kraftlos zu Boden, und im gleichen Augenblick hörte er, wie auch Melissa wieder zurückfiel, denn das Leben, das in einem hellroten, pulsierenden Strom aus Vivians Körper herausfloß, war auch das Leben ihres negativen Ebenbildes. Auf einer tieferen, seinem bewußten Zugriff in diesem Moment noch verschlossenen Ebene seines Denkens begriff er, was sie getan hatte, nämlich den schwindenden Rest ihrer Kräfte dazu zu nutzen, sich ein letztes Mal mit ihrer dunklen Schwester zu vereinen. Die Kräfte hatten nicht mehr gereicht, sie Melissa überwinden zu lassen oder sie gar wieder zu zwingen, zu dem zu werden, was sie einst gewesen war. Aber sie hatten gereicht, ihren Tod zu ihrer beider Ende werden zu lassen.

»Du ... hast mich ... also doch noch überlistet«, drang Melissas Stimme in seine Gedanken. Mühsam hob Mark den Kopf und sah sie an. Sie hatte sich herumgedreht und war ein Stück auf Vivian zugekrochen, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt und die Hände zu Krallen geformt; ein sterbendes Raubtier, das seinen letzten Atem dazu aufwendete, sein Opfer doch noch zu bekommen und es mit sich in den Tod zu reißen. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt, und in ihren Augen loderte ein Feuer, das ihn schaudern ließ. Aber der Haß, auf den er wartete, kam nicht. Er spürte nichts. Nicht einmal mehr wirklichen Schmerz. Er fühlte sich einfach nur leer.

»Aber das ... nutzt dir nichts«, hauchte Melissa. Auch sie starb. »Du hast ... gewonnen, aber du ... entkommst mir ... trotzdem nicht«, flüsterte sie. »Ich werde ... immer bei dir ... sein, Schwester. Auch auf der ... anderen Seite.«

Ihre Bewegungen hörten auf. Das Feuer in ihrem Blick erlosch, ihr Kopf rollte kraftlos zur Seite, und als Mark den Blick wieder senkte und auf Vivian hinabsah, war das Leben auch aus ihren Augen gewichen. Langsam, unendlich behutsam und zärtlich streckte er die Hand aus, berührte ihr Gesicht und schloß ihre Augen. Die Berührung spendete keinen Trost. Das Wunder, auf das er wartete, kam nicht. Vielleicht hatte sie es von Anfang an so geplant. Vielleicht hatte etwas in ihr vom ersten Moment an gespürt, daß sie diesen Kampf nicht gewinnen konnte, denn sie kämpfte ihn gegen ein Geschöpf, das so klug und stark und mächtig war wie sie selbst, aber unvorstellbar böse. Sie hatte gekämpft, und sie hatte alles gegeben, was sie hatte, aber der Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen, war vielleicht zu hoch gewesen. Es waren Menschen gestorben. Sie hatte Menschen getötet, und er wußte plötzlich, daß sie mit dieser Last so oder so nicht hätte weiterleben können. Doch all dies begriff er erst viel später, und es sollte noch länger dauern, bis er begann, auch den Trost zu verspüren, der in diesem Gedanken lag. Im Augenblick empfand er nichts. Nicht einmal mehr Entsetzen. Er saß einfach neben ihr und starrte ins Leere, und als er das nächste Mal den Blick hob, da waren sie allein; Melissa war verschwunden, wie sie gekommen war. Aber er vergaß ihre letzten Worte nie: »Ich werde immer bei dir sein, Schwester. Auch auf der anderen Seite.«