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Ihr Gesicht?

Erst nach Sekunden erkannte Vivian, daß sie sich täuschte. Das Gesicht glich dem ihren in jedem Detail, und doch war es das Gesicht einer Fremden! Die Augen blickten hart und mitleidslos. Augen, für die Begriffe wie Güte, Liebe und Menschlichkeit nicht existierten und die einen harten und rücksichtslosen Geist widerspiegelten. Es war Melissas Blick.

Vivian schrie und wich aufstöhnend vor dem Spiegel zurück, aber ihr Spiegelbild wiederholte die Bewegung nicht. Sie versuchte, den Blick abzuwenden, aber es ging nicht. Sie war im Blick der Hexe gefangen, eingesponnen in das hypnotische Funkeln dieser schwarzen, grundlosen Augen.

»Ich kriege dich, Vivian Taylor!« vernahm sie die Stimme Melissas. Die Worte klangen direkt in ihrem Geist auf. »Du kannst nicht vor mir fliehen. Einmal bist du mir entkommen, aber ich kriege dich, egal, wo du dich verkriechst. Du kannst dich nicht vor mir verstecken!«

Vivian taumelte zurück, stolperte und fiel schwer zu Boden. Der Schmerz zerriß den Bann. Vivian schlug die Hände vors Gesicht, wälzte sich herum und schloß die Augen. Dann verlor sie zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit das Bewußtsein. Sie sah nicht mehr, wie das Bild ihrer Doppelgängerin verblaßte.

Als Jack Hedon, der von ihren Schreien angelockt worden war, in das Zimmer stürzte, war von der unheimlichen Erscheinung nichts mehr zu sehen.

»Wie fühlst du dich?«

Zuerst wußte Vivian nicht, wo sie die Stimme einordnen sollte. Sie lag auf dem Rücken auf einer harten, kalten Unterlage. Rotgefärbtes Licht drang durch ihre geschlossenen Lider, und die Berührung an ihrer Schulter war zwar sanft, aber auch stark. Sie öffnete die Augen und versuchte sich aufzusetzen, wurde aber sofort mit sanfter Gewalt zurückgeschoben.

»Du bleibst schön liegen«, sagte Mark. Er verbarg seine Sorge hinter einem ungeschickt geschauspielerten Lächeln und setzte sich ächzend auf die Bettkante. »Schön, daß du wieder wach bist.«

»Was ... ist passiert?« fragte Vivian verwirrt.

Mark zuckte die Achseln. »Ich dachte, du würdest mir das sagen«, antwortete er. »Mister Hedon hat dich bewußtlos auf dem Fußboden gefunden. Er sagt, er hätte dich schreien gehört.« Das Lächeln war plötzlich wie fortgewischt, und zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte. »Was ist geschehen?«

Vivian sah sich ängstlich im Zimmer um. Die Tür stand einen Spalt weit offen, und aus dem Erdgeschoß drangen die undeutlichen Stimmen der Hedons herauf.

»Wir sind allein«, beruhigte sie Mark. »Du kannst offen reden.«

»Es war Melissa«, erklärte Vivian mit gedämpfter Stimme. »Ich habe sie in dem Spiegel dort drüben gesehen.« Sie deutete zu der Wand.

Mark zuckte bei der Erwähnung des Spiegels unwillkürlich zusammen. Er schaute hinüber, aber alles, was er in der gläsernen Fläche sah, war ein exaktes Abbild eines Teils des Raumes.

»Sie hat mir gedroht«, fuhr Vivian fort. »Sie hat gesagt, sie würde mich töten, und ich könnte mich nirgendwo vor ihr verstecken. Sie kann uns jederzeit finden, das hat sie bewiesen. Sie weiß, daß wir hier sind. Wir müssen weg, Mark, so schnell wie möglich.«

Mark lachte bitter. »Du wirst in deinem Zustand nirgendwo hinfahren. Ganz abgesehen davon, daß der nächste Zug erst morgen früh fährt. Um diese Zeit kriegen wir nicht mal einen Wagen.«

»Um diese Zeit?«

»Es ist fast elf«, erwiderte Mark. »Du warst mehrere Stunden bewußtlos. Du gehst nirgendwohin, ehe der Arzt nicht hier war.« Er grinste. »Eine der seltenen Gelegenheiten, dir mal etwas mit gleicher Münze heimzuzahlen.«

Vivian setzte sich auf. Sie fühlte sich immer noch zum Umfallen müde, aber es war keine rein körperliche Müdigkeit mehr. Es war etwas, das tiefer ging. Eine Erschöpfung, die ihre Wurzeln irgendwo in ihrer Seele hatte, als gäbe es da etwas, das ihren Lebenswillen angriff.

»Verdammt, Mark, das ist kein Spiel! Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe? Melissa weiß, daß wir hier sind. Ist dir klar, was das bedeutet? Sie kann uns jederzeit angreifen, und du hast ja erlebt, was sie auszurichten vermag.«

»Eben«, antwortete Mark ernst. »Wenn sie uns überall mühelos finden kann, ist es egal, wo wir uns aufhalten. Dadurch wird es sogar besonders wichtig, daß du dich schnellstmöglich erholst. Je schlechter es dir geht, ein desto leichteres Opfer bist du für sie.«

»Mark, ich bin in Ordnung«, behauptete Vivian. »Und irgendein Transportmittel finden wir schon. Niemand wird ablehnen, wenn du ihm den doppelten oder dreifachen Neupreis für seinen Wagen bietest.«

»Was nutzt mir all mein Geld, wenn ich es nicht bei mir habe? In meiner Brieftasche sind nur die dreihundert Pfund, die ich vor unserem Abflug am Flughafen gewechselt habe. Bei einem Scheck sieht alles schon anders aus, bei einem solchen Angebot würde jeder mißtrauisch werden.«

»Dann lassen wir uns eben von einem Taxi nach Hillwood Manor fahren.«

»Hör schon auf mit dem Unsinn«, sagte Mark unwirsch. »Du bist nicht im Zustand, zu reisen. Mir kannst du nichts vormachen. Du fühlst dich großartig, wie? Man sieht es dir an. Du siehst aus wie das blühende Leben.«

»Ich kann mir vorstellen, wie ich aussehe«, erwiderte Vivian ärgerlich. »Aber das hat nichts mit dem Unfall zu tun. Ich ... ich fühle mich schon seit unserer Rückkehr aus den Staaten nicht wohl.« Sie lachte leise. »Vielleicht vertrage ich das englische Klima nicht mehr.«

Mark ging nicht auf den Scherz ein. Er stand auf und ging zur Tür, um sie zu schließen. »Ich wollte es eigentlich später tun«, sagte er dann. »Aber früher oder später muß ich dich sowieso fragen - und wenn du schon selbst damit anfängst ... Du bist nicht erst seit unserer Rückkehr aus New York so seltsam. Du hast dich verändert, seit du auf der Spiegelwelt warst. Du bist plötzlich reizbar, übellaunig, depressiv ... Eigenschaften, die ich überhaupt nicht an dir kenne.«

Vivian antwortete nicht sofort. Mark drückte eigentlich nur mit einfachen, klaren Worten das aus, was sie selbst schon die ganze Zeit über gefühlt hatte. Irgend etwas war mit ihr passiert - oder passierte noch. Zu Anfang hatte sie diese Veränderung auf die Erschöpfung geschoben, auf den Umstand, daß nicht nur ihr Körper, sondern auch ihr Geist eine Erholungspause dringend nötig hatte. Aber eigentlich hatte sie gewußt, daß dies nichts als eine Ausrede war. Es wurde nicht besser, sondern schlimmer.

»Ich weiß«, sagte sie leise, ohne Mark anzusehen. »Aber ich kann dir diese Frage nicht beantworten, weil ich die Antwort selbst nicht weiß. Ich habe dir alles erzählt, was ich erlebt habe, aber ...« Sie brach ab und suchte nach Worten. »Es gibt Dinge, die man nicht mit Worten beschreiben kann«, sagte sie schließlich.

Eine Zeitlang sagte keiner von ihnen ein Wort. Schließlich nickte Mark verständnisvoll. »Das beste wird sein, du schläfst dich erst einmal aus. Morgen früh reden wir dann über alles.«

»Mark, ich will nicht hierbleiben. Wir sind hier in Gefahr, begreif das doch endlich.«

»Aber die Gefahr ist hier sicherlich nicht größer, als wenn wir mit dem Auto irgendwo in der Nacht unterwegs wären.« Mark drehte sich herum, ging zur Tür und verließ den Raum. Vivian hörte seine Schritte auf der Treppe.

Plötzlich hatte sie Angst.

29

Die Beleuchtung war bis auf den matten, rotgelben Schimmer einer einzelnen Kerze erloschen. Leise, fremdartige Musik erfüllte den Raum; Klänge, die von schrillem Diskant bis zu einem tiefen, beunruhigenden Hämmern reichten und von untergegangenen Kulturen und finsteren Riten kündeten. Durch die geschlossenen Fenster schien die Nacht mit ihren Schatten und Ängsten hereinzusickern.

Der Raum hatte kaum noch etwas mit dem hellen, freundlichen Wohnzimmer gemein, das Mark und Vivian am Nachmittag kennengelernt hatten. Die Wände waren mit schwarzem Samt verhängt, in dessen Falten fremdartiges Leben zu pulsieren schien, und auf dem Fußboden war mit schwarzer Kreide ein kompliziertes Muster aus kabbalistischen Zeichen und einfachen, einprägsamen Symbolen entstanden. Die Zeichnung hatte die Form eines großen, sechseckigen Sternes.